„Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus. Wer sich diese Frage ersthaft vorlegt, steckt wahrscheinlich in irgendeiner fundamentalen Krise.
Unweigerlich denkt man an Politiker, Pferdeverkäufer und Menschen, denen es wichtiger scheint, sich zu verkaufen, als jemand zu sein. Man denkt nicht an Jene, die gelegentlich aus Not lügen und auch nicht an Jene, die zeit- oder teilweise den Pfad der objektiven Wahrheit verlassen, um sich der subjektiven Wahrheit hinzugeben, so wie es Verliebte zu tun pflegen, wenn sie den geliebten Menschen mit anderen Augen sehen.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Sprache immer ein Anzeichen von Kultur war. Zeiten, in denen jeder, wenn er nur spechen konnte, schon eine gewisse Kultur ausstrahlte. Möglicherweise hat es diese Zeiten nie gegeben, denn mit der Wahrheit kam auch die Lüge in die Welt. Aber eine Welt, in der notorische Lügner die einzige sprachliche Bedrohung der Kultur darstellen, steht vergleichsweise sicher auf den Säulen der Wahrheit. Leider gibt es andere sprachliche Bedrohungen als die Lüge. „Zu den auffälligstem Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es soviel Bullshit gibt.“ schreibt Harry G. Frankfurt in seinem Buch „Bullshit“ und macht sich daran, das Phänomen „Bullshit“ zu beschreiben. Die Frage, warum Bullshit ein so auffälliges Merkmal der modernen Kultur ist, kann er in „Bullshit“ aber nicht vollständig beantworten.
Harry G. Frankfurt schreibt über die Wahrheit, als er feststellen muss, dass Bullshit mehr Raum in unserem Leben einnehmen könnte, weil wir den Wert der Wahrheit nicht mehr zu schätzen wissen. Er ist sicherlich nicht der Erste und er wird hoffentlich auch nicht der Letzte sein, der über Wahrheit schreibt; aber er schreibt vielleicht das schönste Buch über die Wahrheit bisher. In seinem Buch Über die Wahrheit schreibt er: „Meine These lautet, dass Leute, die Bullshit produzieren, so tun, als betrieben sie einfach Vermittlung von Information, auch wenn sie nichts Derartiges im Sinn haben. Vielmehr sind sie, und das ist das Wesentliche, Schwindler und Blender, die den Versuch unternehmen, mit dem was sie sagen, die Meinungen und Einstellungen ihrer Gesprächspartner zu manipulieren. In erster Linie interessiert sie daher die Frage, ob das, was sie sagen, die Wirkung hat, diese Manipulation herbeizuführen. Dementsprechend ist es ihnen mehr oder weniger gleichgültig, ob das, was sie sagen, wahr oder falsch ist.“. Sein Buch über die Wahrheit deckt eine ersthafte Bedrohung für jede Kultur auf. Eine Bedrohung, die alle Kulturen dieser Welt stärker bedroht als die Lüge.
Politiker wollen gewählt werden und Verkäufer sollen auch schlechte Produkte verkaufen. Die Bedrohung durchzieht unseren gesamten Alltag. Unsere Arbeitswelt ist davon bedroht, dass es sich mehr lohnt, sich selbst zu verkaufen, als Beiträge zum Erfolg des Unternehmens zu leisten. Der Sinn unseres Lebens ist davon bedroht, dass wir sinnlosen Beschäftigungen nachgehen, die wir uns haben verkaufen lassen. Wenn uns Sinnloses verkauft wird, ohne dass wir es bemerken, dann stiehlt uns das nicht nur unser Geld sondern vor allem anderen unsere kostbare Zeit.
Man glaubt nach dem Lesen von Frankfurts Buch an die Drohung, die von Bullshit ausgeht. Es ist aber nicht so einfach, dass die Gefahr gebannt wäre, wenn sie erst erkannt ist. Propaganda, eine primitive aber wirkungsvolle Form von Bullshit, sollte heute eigentlich leicht zu erkennen sein. Leider ist Propaganda aber immer noch wirkungsvoll. Eine noch stärkere Bedrohung unserer Kultur geht aber heute davon aus, dass es viel subtilere Arten von Bullshit gibt, die schwerer zu entlarven sind.
Über die Wahrheit ist ein Buch für eine bessere, aufrichtigere Welt. Stilistisch ist es so gut geschrieben, dass es fast Bullshit sein könnte, aber Harry G. Frankfurt gibt sich alle erdenkliche Mühe, zu zeigen, dass man Probleme auf Dauer nur mit der Wahrheit lösen kann. Die Wahrheit sollte uns deshalb am Herzen liegen. Man würde sich aber wünschen, dass uns die Wahrheit auch am Herzen liegt, wenn wir noch kein Problem haben, das wir lösen müssen. Dazu leistet Frankfurts Buch Über die Wahrheit einen erstaunlichen Beitrag. Wer die Bedrohung, die von Bullshit ausgeht, erkannt hat, liest der Vollstänigkeit halber auch sein Buch Bullshit. Beginnen sollten man aber mit Über die Wahrheit, obwohl es nach Bullshit und vorallem wegen Bullshit geschrieben wurde. Uber die Wahrheit ist das krafvollere, schönere und wichtigere Buch, das den Leser erst vollständig erkennen läßt, warum man Bullshit lesen sollte.
Wer gern englische Bücher liest, nimmt diese: