„In jedem meiner Werke gibt es ein neues Experiment mit einer anderen Wertigkeit als das vorhergehende.“
„Kunst ist Dienst am Menschen.
Aber die Menschen werden weiß Gott wohin geführt.
Ich will die Menschen zur Kunst führen,
nicht die Kunst zu ihrem Führer werden lassen.
Wurde ich zu früh oder zu spät geboren?
Kunst sollte nichts mit Politik zu tun haben“Alexander Rodtschenko
Das Neue Sehen war mit dem Tod von Rodtschenko und Moholy-Nagy nicht zu Ende, aber es wurde nicht mehr mit der gleichen Leidenschaft weiterverfolgt, die Alexander Rodtschenko an den Tag legte. Rodtschenko versuchte neue Formen der Ästhetik, mit der Aufklärung und einer neu verstandenen Wahrhaftigkeit der Fotografie zu verbinden. In diesem Zusammenhang schreibt er im Jahre 1935, die Fotografie verfüge über alle notwendigen Rechte und Vorzüge, die Kunstform der damaligen Zeit zu sein. Die Aussage Rodtschenkos hat, wenn man sie auf die heutige Zeit bezieht, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Die extremsten Rodtschenko-Perspektiven haben, insbesondere wenn Menschen in Schrägsichten fotografiert werden, auch nichts von ihrem avantgardistischen Charakter eingebüßt. In der Zeit des Stalinismus wirken Rodtschenkos Aussagen beim Zurückblicken naiv. Sie in einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft für naiv zu halten, würde die Möglichkeit einer konstruktiven Kunst überhaupt leugnen. Die Fotografie kann – gerade in einer Flut von Bildern – die Kunstform der Avantgarde der Gegenwart werden. Die Aufgabe einer solchen Avantgarde erscheint im Bewahren und Verbessern einer demokratischen und aufgeklärten Gesellschaft einfacher, als in der Herstellung einer solchen Gesellschaft in den dunklen Zeiten des demokratischen Umbruchs.
Das ganz ganz neue Neue Sehen
Das Neue Sehen könnte auch heute auf Kreativität, Spontanität und Experiment setzen, den von Rodtschenko geforderten Wahrhaftigkeitscharakter des reproduzierenden Prozesses des Fotografierens beibehalten und die Fotografie für die Tätigkeit des Künstleringenieurs öffnen. Sie könnte sogar die Wirklichkeit inszenieren, wie es Jeff Wall gemacht hat. Dazu könnten die Künstleringenieure mit ihrer Sozialtechnik des Fotografierens eine eigene avantgardistische Wirklichkeit schaffen, die tatsächlich in den Alltag der Menschen hinausgetragen wird und zur Aufklärung über das neue Leben beiträgt. Auf diese Art und Weise kann die Fotografie des Neuen Sehens den Menschen zwar nicht die Idealisierungen und die Lügen einer wie auch immer gearteten Propaganda ersparen, aber sie kann mit aufklärenden Bildern dagegen halten. Wobei der Grad zwischen Propaganda und aufklärenden Bildern schmal sein kann.
Dabei ist es für die Aufklärung wichtig, den klassischen Rationalismus zu überwinden, der um 1920 noch vorherrschte. Der klassische Rationalismus versuchte uns glauben zu machen, dass es für ein Problem, genau eine beste Lösung gibt. Eine solche Denkweise schließt auch ein, dass es eine richtige Verwendung der fotografischen Mittel gibt. Auch Le Corbusier glaubte noch an den klassischen Rationalismus als er begann, das Problem des Wohnens aufzustellen. Aber das Aufstellen von Problemen erlangte eine Eigendynamik, die auch Le Corbusier erfasste. Sie führte zu der Erkenntnis, dass man ein und dasselbe Problem unterschiedlich aufstellen kann und dass man dann auch unterschiedliche Lösungen bekommt und dass es im Normalfall keine beste Lösung gibt. Es gäbe nur dann eine beste Lösung, wenn ein Problem vollständig aufgestellt wäre, sich alle über die Kriterien einig wären und es zudem im Lösungsraum eine Alternative gibt, die besser ist als alle anderen. Solange es Menschen gibt, ist das ein nahezu unmögliches Szenario.
Wenn man dort anknüpfen will, wo Rodtschenko und Moholy-Nagy aufgehört haben, dann ist von Vorteil, wenn man schon gute fotografische Fähigkeiten mitbringt. Je besser man Komposition, Bildsprache, Beleuchtung, etc. bereits beherrscht, desto besser werden die Ergebnisse sein, die man erzielen kann. Man darf nicht übersehen, dass Rodtschenko und Moholy-Nagy bereits erfolgreiche Maler waren, bevor sie mit dem Fotografieren angefangen haben.
Zen 42 – Lernen zu Lernen zu Lernen
Sie wollen etwas dazu lernen? Dann brechen Sie aus ihrer normalen Routine beim Fotografieren aus. Wer sich noch keinen eigenen Stil beim Fotografieren zugelegt hat, sollte zunächst ein paar Kriterien für gute Bilder aus unseren Buchempfehlungen für eine gute Komposition ausprobieren. Wenn Sie nicht nur einen eigenen Stil entwickelt haben, sondern die Fähigkeit erworben haben, den Stil verschiedener Stilrichtungen zu imitieren, können Sie ausprobieren, mit welchen Kriterien, welcher Stilrichtungen die Rodtschenko-Perspektiven besonders gut harmonieren. Das bekommen Sie nur über viele Übungsaufnahmen heraus, denn bei jedem Motiv und jeder Aufnahme kann man andere Erfahrungen machen.
Wenn Sie keine Routine im Ausbrechen aus der Routine haben und über wenig fotografisches Repertoire verfügen, dann geben Sie sich die Zeit, die Übungen zu wiederholen und ihre Fähigkeiten dadurch weiter zu trainieren und zu vertiefen. Die Analyse Ihrer Bilder sollte kritisch Ihre Fortschritte hinterfragen und analysieren. Achten Sie darauf, welche Kriterien sich mit den hier vorgeschlagenen harmonisch vereinen lassen. Überfordern Sie sich nicht und seien Sie ruhig ehrlich mit sich selbst. Sollten Sie für eine Weile nicht voran kommen, dann ist es besser, sich beispielsweise eine Weile mit der Reinen Fotografie zu befassen, die dem heutigen Mainstream näher steht. Nach einigen Erfolgserlebnissen wird Sie die Avantgarde-Fotografie eines Alexander Rodtschenko um so mehr herausfordern. Sie hat es verdient, dass man ihr viele Anläufe zugesteht.
Abhängig von Ihren Kenntnissen der Fotografie kann es sehr schnell gehen oder lange dauern bis Sie sich hier ein Bild gemacht haben. Haben Sie Routine im Erlernen neuer Stilmittel und verfügen bereits über ein großes Repertoire an verschiedenen Stilen, dann wird es Ihnen leicht fallen und Sie werden schnelle Fortschritte an sich entdecken. Trifft das nicht auf Sie zu, versuchen Sie, sich parallel mit dem Lernen auf auf verschiedenen logischen Ebenen zu befassen, wie es beispielsweise Gregory Bateson erforscht hat. Sie lernen dabei, wie man lernt, zu lernen, zu lernen. Bei diesem Lernen auf drei verschiedenen logischen Ebenen kann man sich selbst besser beobachten und bei seinen Fehlern zusehen – also eine Art Selbsterkenntnis vor Lernfortschritt. Die dritte Ebene – wenn man die Mystik der Wissenschaft vorzieht – ist den Zen-Meistern vorbehalten. Zen 42 ist der Weg des Künstleringenieurs, die dritte Ebene zu meistern.
Der hintere Teil der Kamera
Für Motorradfahrer gibt es das Buch Die obere Hälfte des Motorrads von Bernt Spiegel. Auf dem hinteren Buchdeckel kann man folgendes lesen: „Schon Kaiser Karl V. hat sich gefragt, ob das Pferd ein Teil des Reiters sei oder der Reiter ein Teil des Pferdes. Wer wirklich reiten kann, versteht sofort was gemeint ist. Und nicht nur der Reiter versteht; die obere Hälfte ist stets die gleiche, ob sie nun reitet, Cello spielt, einen Rennwagen steuert oder in einem Achter rudert; ob sie ein Orchester dirigiert, Schreibmaschine schreibt oder einfach nur Fahrrad fährt. Es geht um die unglaubliche Anpassungsfähigkeit des Menschen, die solchen Werkzeuggebrauch überhaupt erst möglich macht und die auf seiner Fähigkeit beruht, neue Verhaltensprogramme zu erwerben und Automatismen aufzubauen.“ Wenn der Mensch fotografiert, dann ist er der hintere Teil der Kamera.
Als hinterer Teil der Kamera beginnt die Arbeit im Kopf, indem Sie sich bewusst etwas vornehmen, es planen und sich den jeweiligen Ablauf im Kopf visualisieren. Am Anfang werden Sie in Übungen bewusst darauf achten müssen, Dinge anders zu machen. Mit der Zeit und nach einigen Foto- und Analyserunden, beginnen Sie zu lernen und neue Verhaltensweisen zu automatisieren. Aber Vorsicht: Sie werden immer wieder in altes Verhalten zurückfallen. Bleiben Sie beharrlich bei Ihren Vorsätzen und wiederholen Sie Ihre Übungen so lange, bis sie nur noch selten bis gar nicht mehr in Ihre alten Muster zurückfallen. Auf diesem Weg korrigieren Sie Ihre bisherigen Fehler oder aber Sie erweitern Ihr Repertoire um neue positive Möglichkeiten, ohne ihre bisherigen zu verlieren. Im Idealfall lernen Sie so noch etwas dazu und bewahren sich dabei jene guten, individuellen Fähigkeiten, die Sie bereits zuvor gut beherrschten.
Kurt Tucholsky war im Schreiben so gut, dass er in der Lage war, verschiedene Stile beim Schreiben zu entwickeln. Er schrieb – quasi mit 5 PS – unter seinem eigenen Namen und unter seinen vier Pseudonymen: Peter Panter, Ignatz Wrobel, Theobald Tiger und Kaspar Hausser. 1922 informierte Tucholsky seine Leser am 24. August 1922 über die Pseudonyme, als in der Weltbühne sein Artikel ›Wir alle Fünf‹ erschien. Manche wussten es vielleicht schon früher, weil alle fünf „Autoren“ auf einem Niveau schrieben, was man in der Regel selten in einer kleinen Wochenzeitung findet. Ein sehr guter Fotograf kann sich auch verschiedene Stile zulegen, wenn er es jederzeit schafft, in sie hinein und wieder heraus zu finden. Das ist schwer, führt aber – wie bei guten Schauspielern – zu einem immens großen Repertoire.
Lernen in der Gruppe
Da die Rodtschenko-Perspektiven auch heute noch eine Anmutung von Avantgard-Fotografie haben, kann es sein, dass Ihre Aufnahmen Ihren Fotofreunden auch dann nicht gefallen, wenn Sie eigentlich gut sind. Oder wenn es schlimmer kommt, gerade dann nicht gefallen, weil sie gut sind. Hier ist es wichtig, einen Kreis von Gleichgesinnten zu finden, der aufgeschlossen aber kritisch bleibt. Oder aber Sie gehen es nach Rodtschenkos Art an und versuchen es gemeinsam mit Ihrem Lebenspartner.
Es ist nicht wichtig, dass in einer solchen Gruppe alle das gleiche Niveau haben. Aber die Gruppenmitglieder sollten sich auf Augenhöhe begegnen. Ein Arbeiten auf Augenhöhe schließt Platzhirsche und ihr Verhalten aus, und Gruppen funktionieren besser, wenn die Gruppenmitglieder sich gegenseitig etwas beibringen können. Dann stört es auch nicht, wenn eine sechsköpfige Gruppe aus drei Anfängern und drei Fortgeschrittenen besteht. Das Verhältnis sollte jedoch harmonisch und ausgeglichen sein. Drei Anfänger und drei Fortgeschrittene funktioniert meines Erachtens besser als ein Anfänger und fünf Fortgeschrittene. Je nachdem, welches Erfahrungsniveau in Ihrer Gruppe vorhanden ist, sollten Sie sich bei den folgenden Übungen mehr oder zunächst weniger vornehmen.