Neues Sehen, Neue Sachlichkeit, Reine und Experimentelle Fotografie
Wenn man Kunst und Fotografie analytisch betrachtet, muss man irgendwann Farbe bekennen und die fotografischen Stilrichtungen Neues Sehen, Neue Sachlichkeit, Reine und Experimentelle Fotografie gegeneinander abgrenzen, um ihre Eigenheiten zu betonen und so verständlicher zu machen. Kurz gefasst, geht es darum, die Begriffe für die Unterscheidung von Stilrichtungen nützlicher zu machen, indem sie an stilbildenden Kriterien ausgerichtet werden. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Stilrichtungen, wird zeigen, dass sich die Unterschiede dadurch verstehen lassen, dass die Hauptakteure das Problem ihrer Kunst unterschiedlich aufgestellt haben. Wenn man sich auf die Unterschiede zwischen den Vertretern der Neuen Sachlichkeit, der Reinen Fotografie und den Hauptvertretern des Neuen Sehens nach Rodtschenko vor Augen hält, fällt es schwer, alle in einen Topf zu werfen. Aus dem Lager der Neuen Sachlichkeit und der Reinen Fotografie legte man eher Wert auf realistische Perspektiven und es gab deswegen viel Kritik an den extremen Perspektiven, die für Rodtschenko den Kern des Neuen Sehen und für Moholy-Nagy einen wesentlichen Teil ausmachten.
Im Lager der Neuen Sachlichkeit und der Reinen Fotografie sahen einige Vertreter bei den Künstlern der Experimentelle Fotografie auch einen gewissen laienhaften Umgang mit dem Medium Fotografie sowie eine fehlende technische Ausbildung. Man kann deshalb sogar so weit gehen, dass sich die Neue Sachlichkeit bewusst gegen den Pictoralismus einerseits und gegen die Experimentelle Fotografie andererseits abgegrenzt hat. Vertreter der Reinen Fotografie störten sich an der völligen Freiheit der Experimentellen Fotografie und des Neuen Sehens nach Rodtschenko, weil beide mit tradierten Normen und dem kunstvollen Umgang mit der Technik brachen und stattdessen mit neuen, ungewohnten Perspektiven, Kompositionen und Beleuchtungstechniken experimentierten. Die Experimentelle Fotografie probierte darüber hinaus auch neue fotografische Techniken aus – z.B. das Erstellen von Fotogrammen.
Wir werden die Begriffe Hauptströmung und Strömung verwenden, wenn Künstlergruppen und Künstler diesen Strömungen der Kunst ausgesetzt sind. Stilrichtungen und Stile werden von Künstlergruppen und Künstlern dagegen bewusst gewählt. Aus Stilrichtungen können Strömungen werden, wenn die Gruppe der Künstler, die sich für eine Stilrichtung entscheiden, groß wird. Strömungen können sich bilden, wenn beispielsweise neue technische Möglichkeiten auftauchen oder bei vielen Künstlern eine Abneigung gegen Hauptstömungen entstehen, denen sie ausgesetzt sind. Anfang des 19. Jahrhunderts war der Pictoralismus, die künstlerische Hauptströmung in der Fotografie. Viele Fotografen wendeten sich Anfang der 20er Jahre vom Pictoralismus ab und neuen Stilrichtungen zu. Vereinfacht lassen sich in den 20er Jahren – neben dem Pictoralismus, der mehr und mehr zum erliegen kommt – zwei Hauptströmungen anhand ihrer Neigung zu experimentieren, unterscheiden. Die Strömungen und Stilrichtungen dienen nur als Beispiele, um die Unterschiede zu verdeutlichen. Es geht nicht um ihre vollständige Erfassung.
Die Experimentelle Fotografie ist eine Hauptströmung der Fotografie um 1920, die sich in weitere, unterscheidbare Strömungen und Stilrichtungen unterteilen lässt. Der Experimentellen Fotografie lassen sich verschiedene Stilrichtungen zuordnen: Das Neues Sehen im engen Sinne, das sich mit Rodtschenko-Perspektiven und weiteren Kriterien zur Perspektive befasst, die Surreale Fotografie, die sich mit der Darstellung von Traumhaftem, Unbewusstem, Absurdem und Phantastischem befasst, der Magische Realismus, der aus der realen Wirklichkeit und der magischen Wirklichkeit von Halluzinationen und Träumen eine dritte Realität bildet (der Übergang zur surrealen Fotografie ist daher fließend) und der Dadaismus. Die hier genannten Stilrichtungen werden in der Literatur ganz unterschiedlichen, anderen Richtungen zugeordnet. Beispielsweise wird in der Malerei heute der Magische Realismus der 20er Jahre zur Neuen Sachlichkeit gerechnet. Im Folgenden verwenden wir für die Zuordnung zu Strömungen und Stilrichtungen stilbildende Kriterien, und es geht vor allem um die Fotografie und ihre Strömungen und Stilrichtungen. Betrachtet man stilbildende Kriterien, dann wurzelt zumindest der heutige Magische Realismus weniger in der Neuen Sachlichkeit als in der Experimentellen Fotografie.
Neues Sehen für den neuen Fotografen – neue, unrealistische, weil ungewohnte Perspektiven
Das Neues Sehen im engsten Sinne, das sich nur mit Rodtschenko-Perspektiven befasst, verwendet als stilbildende Kriterien extreme Aufsichten (von-oben-nach-unten-Perspektive), extreme Untersichten (von-unten-nach-oben-Perspektive) und Schiefsichten. Alleine diese einfachen Stilmittel genügten Rodtschenko in vielen Fällen, das Avantgardistische in seiner Fotografie zu entwickeln. Viele seiner Fotografien sind außergewöhnlich, weil sich in ihnen die Kompositionserfahrungen des Malers Rodtschenko und die des avantgardistischen Fotografen Rodtschenkos harmonisch vereinen. Das war bei vielen anderen Fotografen so nicht der Fall und nur wenige Fotografen entschieden, das Neue Sehen im engsten Sinn in ihr Repertoire aufzunehmen. Es ist eine Stilrichtung, die einige ausprobiert aber nur wenige gepflegt haben und sie wurde deshalb nicht zur Strömung. Zudem wurde sie später von den politischen Machtzentren, die weniger avantgardistisch als diktatorisch waren, als entartet gebrandmarkt.
Neues Sehen für den neuen Fotografen – weitere Stilmittel zur Perspektive
Beim Neuen Sehen im engen Sinne kann man weitere stilbildende Kriterien dazunehmen, die einen Einfluss auf das perspektivische Sehen des Fotografen haben. In manchen von Raoul Haussmanns Bildern lassen sich weitere interessante Kriterien finden. Die Bilder müssen ohne perspektivische Raumanschauung auskommen, weil der Bildausschnitt nur ein fragmentarischer Ausschnitt der Wirklichkeit ist, der das Aufbauen von perspektivischen Linien behindert. Ein gutes Beispiel ist das Bild, das die Schultern und den Hals seiner Muse Vera von hinten zeigen.
Weitere stilbildende Kriterien zur Perspektive findet man in der Surrealen Fotografie und im Magischen Realismus. Die Perspektive kann durch Zerrspiegel, spezielle Objektive oder andere Hilfsmittel verzerrt werden. Eine zusätzliche Möglichkeit sind erzwungenen Perspektiven, die ebenfalls gut zu surrealen und magischen Welten passen.
Neues Sehen für den Betrachter – weitere Stilmittel
Nimmt man neben dem Neuen Sehen des Fotografen auch das Neue Sehen des Betrachters der Bilder dazu, dann bietet die Experimentelle Fotografie noch eine ganze Reihe weiterer stilbildender Kriterien. Viele Fotografen experimentierten mit Doppelbelichtungen, Lichtmodulationen, erzwungenen Hell-Dunkel-Mustern oder erstellten Fotomontagen aus ihren Bildern. Es wurden auch mit ganz neuen bildgebenden, fotografischen Verfahren wie Fotogrammen experimentiert.
Neben der Experimentellen Fotografie gab es noch einen weiteren Hauptstrom, deren Fotografen nicht oder weniger auf Experimente setzen, weil ihnen die technische Perfektion ihrer Bilder wichtiger war, als das Ausprobieren neuer Techniken. Zu dieser Hauptströmung gehören die Fotografen, die man den Stilrichtungen der Neuen Sachlichkeit oder der Reinen Fotografie zuordnen kann. Technische Perfektion ergab sich aus einer perfekten Belichtung, einer perfekten Beleuchtung, einer perfekten Lichtführung und einer perfekten Schärfe. Vielen Vertretern dieser Stilrichtung – insbesondere den Vertretern der Reinen Fotografie – galt beispielsweise die totale Schärfe als die perfekte Schärfe.
Über die technische Perfektion hinaus war vielen Vertretern die Klarheit ihrer Themen wichtig, sowie eine sachliche, objektive, wahre und nicht manipulierte Darstellung der Wirklichkeit. Sie bevorzugten – ganz anders als Rodtschenko, Moholy-Nagy oder Haussmann – realistische, weil gewohnte Perspektiven. Die meisten fühlten sich auch der Ästhetik und den strengen Regeln des Bildaufbaus der Meister vergangener Zeiten mehr verpflichtet. Das waren jene strengen Regeln, welche die Avantgarde und die experimentelle Fotografie ein ums andere Mal über den Haufen warfen.
Neues Sehen als Epochenbegriff? – Vielfalt fotografischer Stile in der klassischen Moderne
Bereits in den 20er Jahren war die Vielfalt unterschiedlicher fotografischer Stile groß. Es gab sehr viele gute Fotografen, die – beflügelt durch die schnell fortschreitende Kameratechnik – immer größere Möglichkeiten hatten, einen eigenen fotografischen Stil zu entwickeln. Was sie miteinander verband, waren die Abneigung gegen pictoralistische Bearbeitungen des Filmmaterials und der Wunsch, zu neuen Ufern aufzubrechen. Der gewaltige Strom der Fotografen, der in dieser Epoche neue Wege ging, wird manchmal ebenfalls als Neues Sehen bezeichnet. Es ist das Neue Sehen im weitesten Sinn als Epochenbegriff. Der gewaltige Strom teilte sich aber und machte sich zu ganz unterschiedlichen Ufern auf.
Seit dieser Zeit wird die Vielfalt der fotografischen Stile und Handschriften immer größer. Insbesondere die große Vielfalt trägt dazu bei, dass sich die Fotografie einer umfassenden Theorie oder Kunstgeschichte bis heute weitgehend entzieht. Für viele Künstler liegt gerade darin der besondere Reiz der Beschäftigung mit der Fotografie. Es führt aber auch immer wieder dazu, dass sehr unterschiedliche Ansätze in einen Topf geworfen werden. Das geht beim Neuen Sehen als Epochenbegriff so weit, dass banalen Gemeinsamkeiten (z. B. gegen den Pictoralismus gewendet) mehr Bedeutung beigemessen wird, als den wesentlichen Unterschieden, die sich beispielsweise im Einsatz konträrer Stilmittel äußern können (reale Perspektive versus extreme Perspektive).
Will man fotografische Stile ordnen, dann kann man jenen Fotolehren folgen, die in dieser Zeit am Bauhaus und parallel im russischen Konstruktivismus entwickelt wurden. Jene Fotolehren – oder besser Fotografielehren – vereinen wissenschaftliche und künstlerische Elemente in einem einzigen Paradigma. Wie sich herausstellen wird, ist der Künstleringenieur – wie Rodtschenko und Moholy-Nagy welche waren – der Held in einem solchen Paradigma.
Es geht aber nicht darum, diese Fotolehren in den dogmatischen Himmel zu heben. Es geht darum zu zeigen, dass man das Problem von Kunst und Fotografie, ganz unterschiedlich aufstellen kann und dass der Fortschritt für alle am größten ist, wenn man die die verschiedenen Lehren nebeneinander stellt und versteht, wie unterschiedlich sie die Probleme aufstellen, die sie lösen.