László Moholy-Nagy

„Die noch zu untersuchenden Gebiete lassen sich auf Grund der aufzählbaren neuen Elemente des fotografischen Verfahrens feststellen:

1. Ungewohnte Sichten durch Schrägstellung. Aufwärts- und Abwärtsfotografieren.

2. Versuche mit verschiedenen Linsensystemen; gegenüber unseren Augenerlebnissen ein Verhältnisveränderndes, unter Umständen bis ins „Unkenntliche“ verzerrendes Verfahren. (Konkav- und Konvexspiegel, Lachkabinett-Aufnahmen usw. waren die ersten Vorstufen dazu.) Damit entsteht das Paradoxon: die mechanische Fantasie.

3. Umklammerung des Objekts (Weiterführung der Stereoaufnahmen auf einer Platte).

4. Neue Arten der Kamera-Konstruktion. Vermeidung der perspektivischen Verkleinerung.

5. Übernahme der Röntgen-Erfahrungen in die Fotografie in Bezug auf Perspektivelosigkeit und Durchdringung.

6. Kameralose Aufnahmen durch Belichtung der fotografischen Schicht.

7. Wahre Farbenempfindlichkeit.“1

László Moholy-Nagy

László Moholy-Nagy (1895–1946) ist als Maler, Fotograf, Grafiker, Pädagoge und Theoretiker bekannt.

Er war Lehrer am Bauhaus, hatte danach ein eigenes Atelier in Berlin und verließ Deutschland als er Berufsverbot erhielt. In den USA gründete er das Neue Bauhaus in Chicago. Für Fotografen ist er deshalb besonders interessant, weil er ein Lichtmaler und einer der Pioniere der abstrakten Fotografie war. Charakteristisch ist seine heuristische, experimentelle Vorgehensweise, die Kunst als radikales Experiment versteht. Für ihn gab es ohne Licht keine Kunst. Seit 1922 wird das Licht immer stärker zur Grundlage seiner Ästhetik.

1925 verfasste Moholy-Nagy seinen wichtigen Essay Malerei, Fotografie, Film, in dem er seine Theorie des Lichts darlegt und diese auf sämtliche Künste anwendet. Design und Bühnengestaltung gehörten für Moholy-Nagy zur Kunst, die nur für ihn nur Sinn und Bedeutung hat, wenn sie Licht reflektiert. Diese Entwicklung führte zu einer Malerei, die mit Licht anstatt mit Farben malt, und zu Fotogrammen.

László Moholy-Nagy emigrierte von Land zu Land bis er 1937 in die USA übersiedelte, während Rodtschenko sein Leben in Russland verbrachte. Im Laufe seiner 51 Jahre wohnte László Moholy-Nagy in fünf verschiedenen Ländern und sein Weg führte von Budapest über Wien nach Berlin, von dort nach Weimar, Dessau, zurück nach Berlin, Amsterdam, London bis er 1937 in Chicago angekommen war. Er starb 1946 mit 51 Jahren an Leukämie – in dem Jahr als er amerikanischer Staatsbürger wurde.

1947 wird posthum sein Vermächtnis veröffentlicht: Vision in Motion.

László Moholy-Nagy künstlerisches Werk verbindet Kunst, Technik, Wissenschaft, Ästhetik und Experiment in ähnlicher Weise wie sich diese Begriffe auch im Werk von Alexander Rodtschenko und seiner Frau Warwara Stepanowa verbinden. László Moholy-Nagy hinterließ Fotografien, Fotogramme, fotoplastische und typographische Arbeiten, Skulpturen, Gemälde, Filme, Bühnenbildentwürfe und Bücher. Und seine Arbeitsweise war visionär und experimentell. Viele seiner Visionen sind bis heute Utopie.

Wenn man Alexander Rodtschenko und László Moholy-Nagy als Künstler vergleicht, dann gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Beide haben beispielsweise mit ihren Frauen zusammengearbeitet. Lucia Moholy wurde als Fotografin am Bauhaus bekannt, trennte sich aber von László und blieb in Europa. Rodtschenkos Frau Warwara Fjodorowna Stepanowa war Malerin, Designerin und schrieb über Kunst. Sie gehörte ebenfalls zum russischen Konstruktivismus und arbeitete ein Leben lang mit ihrem Mann zusammen – zum Teil auf den gleichen, aber auch auf anderen Gebieten.

Rodtschenko und seine Frau hinterlassen ein ebenso reichhaltiges Erbe wie László Moholy-Nagy. Es ist nicht weniger visionär. Auch Rodtschenkos Utopie war auf einen neuen Menschen und seine Fähigkeiten zu sehen gerichtet; aber es gibt auch Unterschiede zwischen den beiden. Rodtschenko fokussierte mehr auf die Fotografie mit der damals brandneuen Leica und auf die Verwertung solcher Bilder in Fotocollagen, als dass er systematisch die vielen fotografischen Verfahren, mit denen Moholy-Nagy experimentierte, für das Neue Sehen in Erwägung gezogen hätte. Rodtschenko war fokussierter und deshalb werden die neuen Perspektiven des Neuen Sehens auch oft Rodtschenko-Perspektiven genannt, obwohl sie weder in der Malerei noch in der Fotografie neu waren und obwohl Moholy-Nagy vor Rodtschenko mit den neuen Perspektiven experimentierte. Es war aber Rodtschenko, der seine ganze Leidenschaft und Lebenskraft dafür einsetzte, die neuen Perspektiven als Innovation durchzusetzen, um die normalen zu verdrängen oder sie zumindest gleichberechtigt neben die normalen Perspektiven zu setzen. Sein ganzes Leben konnte er – in seinem Innern – nicht mehr davon ab lassen, obwohl er schweren Repressalien ausgesetzt war.

László Moholy-Nagy begann als Erster das Neue Sehen systematisch zu entwickeln. Seine Fotografien, die er in seiner Dessauer Bauhaus Zeit beispielsweise von den dortigen Gebäuden machte, repräsentieren nicht einfach die Realität, wie man sie aus der Nabelperspektive betrachten kann. Vielmehr nutzen sie die gleichen unkonventionelle Perspektiven, die auch Rodtschenko mehr oder weniger zeitgleich entwickelte. Moholy-Nagy geht es ebenso um den Menschen und er will auf diese Weise das Verhältnis des Menschen zur Architektur neu definieren. Das damit einhergehende fortschrittliche Lebensgefühl wurde von den fotografierenden Bauhäuslern schnell aufgegriffen und ihre Aufnahmen spiegeln wie die Aufnahmen von Rodtschenko den Geist des Aufbruchs hin zu einer neuen Zeit. Aber das Neue Sehen, das Rodtschenko und Moholy-Nagy durch neue Perspektiven anstreben, wird nicht von allen mit dem gleichen Enthusiasmus aufgenommen wie die experimentelle Aufbruchstimmung, die beide mit ihrem Werk verbreiten.

Es war vor allem Rodtschenko, der die neuen Perspektiven als Künstler-Ingenieur für das Fotografieren und die fotografische Produktion ins Leben der Menschen hinein bringen wollte, um damit das Neue Sehen in die Gesellschaft zu tragen. Er steuerte mehr auf ein ingenieurwissenschaftliches Künstlertum zu, das im Grunde sofort einen Beitrag zur Aufklärung des Sehens leisten konnte. Ihm ging es darum, auf direktem Wege Einfluss auf die damals mögliche fotografische Produktion für eine klassenlose Gesellschaft auszuüben. Moholy-Nagy war dagegen breiter aufgestellt und betrieb neben dem ingenieurwissenschaftlichen Künstlertum auch ein basiswissenschaftliches Künstlertum, das systematisch experimentierte, um alles mögliche über unsere Sehgewohnheiten zu erforschen und damit viele weitere Verfahren möglich zu machen.

Vor Moholy-Nagy hatte die Fotografie am Bauhaus keine besondere Rolle gespielt. Der Bauhaus-Gründer Walter Gropius setzte sie vor allem zur Dokumentation der am Bauhaus entwickelten Objekte und Architektur ein. Aber auch der Stil der Dokumentation änderte sich als Lucia Moholy die Dokumentation der Objekte und der Architektur übernahm. Eine Fotografieklasse entstand aber erst 1929 als Sonderabteilung der Werkstatt für Typografie und Reklame. Die Leitung übernahm Walter Peterhans, der die Fotografie am Bauhaus in eine andere Richtung als Moholy-Nagy lenkte.

Moholy-Nagy bewertete das Experimentelle in der Fotografie höher als die technische Perfektion. Peterhans betonte dagegen die technischen Perfektion des Fotografierens und erfasste Formen und Texturen arrangierter Objekte in ihren letzten Nuancen durch eine akribische Ausleuchtung, welche die Objekte in eine magische Welt versetzte. Aber die Bauhausfotografie verlor viel von ihrem experimentellen Charakter zugunsten der institutionalisierten Lehre, welche mit ihrer an der fotografischen Praxis ausgerichteten Lehre die kommenden Fotografengenerationen eher mit den Lehrsätzen der Neuen Sachlichkeit oder der Reinen Fotografie als mit den neuen Perspektiven und Grundsätzen der experimentellen Fotografie oder des Neuen Sehens nach Rodtschenko und Moholy-Nagy prägte. Die Neue Sachlichkeit orientierte sich mehr an jenen Grundsätzen, die auch die Reine Fotografie befolgte (exakte Ausleuchtung, Schärfe, realistische Perspektiven und nicht manipuliertes Filmmaterial in Form von nicht manipulierten Positiven oder Negativen) als an den ungewöhnlichen Perspektiven des Neuen Sehens nach Moholy-Nagy und Rodtschenko oder an der experimentellen Fotografie von Moholy-Nagy.

Der experimentelle Ansatz verliert in den 1930er Jahre an Schwung und Kraft, da die totalitären Regimes in Russland und Deutschland die Kunst zentral steuerten und zu realistischen Perspektiven nach einem strengen akademischen Regelwerk zurückkehrten. Moholy-Nagy vermochte auch später in den USA nicht, die Anhänger der Reinen Fotografie nachhaltig von den neuen Perspektiven zu überzeugen, da die Anhänger der Reinen Fotografie die realistischen Perspektiven bevorzugten, die lange nicht so extrem waren, wie die von Moholy-Nagy oder Rodtschenko. Bei Moholy-Nagy verliert das Neue Sehen bezogen auf die extremen Perspektiven in Amerika an Bedeutung. Stehen die extremen Auf- und Untersichten sowie die Schrägsicht 1927 in Die Beispiellose Fotografie in seiner Aufzählung an erster Stelle, so spielen sie 1947 in sehen in bewegung eine untergeordnete Rolle.

1László Moholy-Nagy, Die Beispiellose Fotografie, in: Das deutsche Lichtbild, 1927 S. X–XI

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