Das Neue Sehen unter die Lupe genommen – Analytische Kunst und Analytische Fotografie

„Wir müssen unser optisches Erkennen revolutionieren. Wir müssen den Schleier von unseren
Augen reißen und die interessantesten Blickwinkel der Gegenwart sind die von oben nach unten und von unten nach oben und ihre Diagonalen.“1
Alexander Rodtschenko

Kunst und Wissenschaft in einem Atemzug zu nennen, hat eine lange Tradition, weil die Künste und die Wissenschaften sehr lange eine gemeinsame Tradition hatten. Man kann sie nicht nach ihren Techniken, Zielen und Ergebnissen gleichsetzen, aber dennoch haben sie auch heute noch miteinander zu tun, weil sie über Ideen, Kreativität, Modellbildung, Semantik, etc. in Beziehung stehen und man sie beispielsweise im Stil des Bauhauses oder im Stil des russischen Konstruktivismus miteinander verbinden kann.

Analytische Kunst – Eine wissenschaftliche Kunst

Ein Weltbild, das Kunst und Wissenschaft in harmonischer Weise vereint, könnte die Welt des Künstleringenieurs sein. Es geht nicht um Gleichmacherei, sondern um Unterschiede und Unterscheidungen. Es geht nicht nur in der Wissenschaft um Modellbildung, Wahrheit, Vernunft, Aufklärung, Empirie, Experimente und so weiter und in der Kunst nicht nur um Schönheit, Kreativität, Sinnlichkeit, Emotionalität und so weiter. Die Überschneidungen, Überlappungen und gemeinsamen Interessen können genauso wie die eklatanten Unterschiede das Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft zu einer spannenden, produktiven aber auch einem irritierenden Unternehmen machen.

Der Künstleringenieur betrachtet sowohl den Prozess des kreativen Schaffens als auch dessen Resultate. Um das Problem, das er ins Auge fasst, ingenieurwissenschaftlich aufzustellen, kann er sowohl stilbildende Kriterien für den vollständigen kreativen Prozess, der mit der Idee beginnt und mit dem Betrachten der fertigen Resultate in einem wie auch immer gearteten Ausstellungsprozess endet, als auch Kriterien für die Resultate aufstellen, die der Prozess erzeugt. Dabei gibt es auch unterschiedliche Akteure zu beachten: Künstler, Publikum, Mitmacher, Kunstkritiker, Wissenschaftler, Galeristen, um nur einige zu nennen. Und es gibt weitere Komplikationen, wenn das Resultat eines Prozesses wieder ein Prozess ist. Dennoch hat der Künstleringenieur gute Karten, weil die Komplexität der Welt sein Alltag ist und er mit Systematiken und nicht mit Methoden arbeitet.

Beispielsweise bezieht sich Henri Cartier-Bressons Kriterium des entscheidenden Moments auf den Moment der Aufnahme und ist damit ein Prozesskriterium. Man kann der Aufnahme später aber nicht direkt ansehen, ob Henri Cartier-Bresson tatsächlich auf den entscheidenden Moment gewartet hat, oder ob er ihn inszeniert hat. In vielen Fällen wird man das nicht mehr feststellen können, außer man hätte Henri Cartier-Bresson direkt beim Inszenieren erwischt.

Dahingegen kann man feststellen, ob im Prozess der Entwicklung das Negativ in pictoralistischer Weise nachbearbeitet wurde. Man kann es dem fertigen Bild ansehen und in Zweifelsfällen, könnte man das Negativ prüfen – sofern es eines gibt und es verfügbar ist. Ein solches Kriterium nützt uns, um den Pictoralismus zu markieren. Es hilft uns den Pictoralismus von der Reinen Fotografie, der Neuen Sachlichkeit, dem Neuen Sehen, etc. abzugrenzen, da alle neuen Stilrichtungen der 20er Jahre gegen den Pictoralismus gerichtet waren. Es ist nützlich, um mit anderen Kriterien die Bilder einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Stilrichtung zuzuordnen.

Von besonderem Interesse sind aber die Kriterien, die es ermöglichen, verschiedene Stilrichtungen zu unterscheiden. Sie sind von besonderem Interesse für das Aufstellen der künstlerischen Probleme dieser Stilrichtung. Ob es gelingt, ein Problem lösungsneutral zu formulieren, hängt davon ab, ob man lösungsneutrale Kriterien zur Unterscheidung der Stilrichtungen findet.

Kriterien, die sich auf das Resultat beziehen, sollten deshalb so gestaltet sein, dass man leicht feststellen kann, ob ein beliebiges Bild ein Kriterium erfüllt oder nicht. Ein Buch von Ernst Weber enthält beispielsweise Kriterien, mit denen eine Bildanalyse vorgenommen werden kann. Die dort vorgestellten Kriterien sind sehr nützlich, genügen in vielen Fällen aber nicht, um Stilrichtungen zu charakterisieren. Es handelt sich eher um Mainstream-Kriterien, die in allen Stilrichtungen verwendet werden. Im Fall des Neuen Sehens fehlen jedoch weitere Kriterien. Beispielsweise enthält es neben der Vogel- und der Froschperspektive kein Kriterium für die extremen Formen der fast senkrechten von-oben-nach-unten-Perspektive und der von unten-nach-oben-Perspektive. Es enthält auch kein Kriterium für die Schrägsicht. Wir können solche Kriterien aber ergänzen und mit ihnen das Problem des Neuen Sehens aufstellen.

Man kann bei einem Kriterium wissenschaftlich zwischen dem Kriterium selbst – also der verständlichen Beschreibung, unter welchen Umständen das Kriterium zutrifft und unter welchen nicht – und seinem Feststellungsverfahren unterscheiden. Das Feststellungsverfahren prüft, ob es zutrifft oder nicht. Kriterien, die sich auf den Prozess beziehen, können nach dem Prozess möglicherweise nicht mehr eindeutig geprüft werden. Insofern sind Kriterien, die sich auf das Resultat beziehen und leichter geprüft werden können für die Analyse wertvoller. Für das Aufstellen eines Problems, kommt es aber nur darauf an, dass das Kriterium verständlich ist. Das lösungsneutrale Aufstellen eines Problems gelingt aber oft mit Ergebniskriterien besser, da Ergebnisse insofern abstrakter sind, als sie mit vielen verschiedenen alternativen Prozessen erzielt werden können.

Die Kriterien, die man für das Aufstellen eines Problems benutzen kann, kommen möglicherweise nüchtern und analytisch daher; aber die analysierten Bilder und die Analyse selbst kann vor Kreativität und Emotionalität sprühen. Wesentlich ist, dass die Kriterien einen Unterschied bezeichnen, der einen Unterschied macht,2 weil man sie für die Unterscheidung wesentlicher Richtungen der Fotografie verwenden kann. Und die Kriterien sind umso nützlicher, je lösungsneutraler sie formuliert sind. Lösungsneutral lassen sich die meisten Ergebniskriterien zur Perspektive formulieren.

Ergebniskriterien zur Perspektive

Normal-, Auf- und Untersichten kommen mehr oder weniger häufig im Sehen des Menschen vor und haben nichts Ungewöhnliches, wenn die Blickwinkel nicht extreme Werte einnehmen. Insbesondere durch Filme sind wir heute auch an extreme Blickwinkel wie von-oben-nach-unten und von-unten-nach-oben gewöhnt. Aber in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts waren solche Blickwinkel für die meisten Menschen ungewohnt.

Ungewöhnliche Kameraperspektiven gehörten zu den auffallendsten Erscheinungsformen von Film und Fotografie, als sich das Neue Sehen Aufmerksamkeit verschaffen wollte. Ihr Anliegen war die Irritation des Betrachters, um ihm so einen veränderten Blick auf das Gezeigte zu ermöglichen. Das Auftreten ungewöhnlicher Perspektiven im Kino setzte eine Ästhetik in Kraft, die ihre Auswirkungen bis in die heutige Zeit hat. Allerdings kommt beispielsweise die heutige Ästhetik von Filmen, Werbung und Musikvideos oft banal daher und ungewöhnliche Perspektiven werden im Fernsehen oft zu dem formalen, letztlich inhaltsleeren Stilmittel, das man Rodtschenko vorgehalten hat.

Auch wenn die extremen Perspektiven uns heute nicht mehr so ungewöhnlich und extrem vorkommen, weil wir sie aus Filmen, Werbung und Musikvideos kennen, so sind die Schrägsichten, die insbesondere das Neue Sehen bei Rodtschenko einzigartig und revolutionär machten immer noch ungewöhnlich. Neben den extremen Blickwinkeln können heute die Sehgewohnheiten auch durch extreme Bildwinkel mit extremen Tele- oder Weitwinkelobjektiven verfremdet und gestört werden. Extreme Bildwinkel sind Stilmittel, mit denen sich das Neue Sehen in der heutigen Zeit verstärken lässt. Dennoch hat auch die ein oder andere Aufnahme aus der Zeit des Neuen Sehens die Charakteristik des Irritierenden und Verstörenden behalten und bedarf keiner Verstärkung.3

Die verschiedenen Blickwinkel

Von-unten-nach-oben

#Perspektive:Blickwinkel:von-unten-nach-oben

Die von-unten-nach-oben-Perspektive umfasst alle extremen Blickwinkel, die senkrecht oder fast senkrecht nach oben gerichtet sind. Diese Blickwinkel haben auf Fotografien immer noch etwas Extremes. Man nimmt sie auch selten ein, wenn man durch die Straßen geht, da man sich schon ein wenig den Hals verrenken muss und der Gleichgewichtssinn irritiert werden kann, wenn man senkrecht nach oben blickt.

Froschperspektive

Froschperspektive

#Perspektive:Blickwinkel:Froschperspektive

Die Froschperspektive umfasst sowohl extreme als auch weniger extreme Blickwinkel. Je weiter sie nach oben gerichtet sind, desto extremer wirken sie. Da die Froschperspektive aber nicht senkrecht oder fast senkrecht nach oben gerichtet ist, kommt es zusätzlich auf die Situation und den Kontext an, ob man die Sicht als extrem oder weniger extrem empfindet.

Von-oben-nach-unten

#Perspektive:Blickwinkel:von-oben-nach-unten

Die von-oben-nach-unten-Perspektive umfasst alle extremen Blickwinkel, die senkrecht oder fast senkrecht nach unten gerichtet sind. Personen schaut man aus der von-oben-nach-unten-Perspektive auf den Kopf. Es gibt von Rodtschenko beispielsweise das Bild eines Fußgängers, der senkrecht von oben fotografiert wurde. Von anderen gibt es auch Aufnahmen, die von Türmen, Hochhäusern oder gar aus dem Flugzeug gemacht wurden.

Vogelperspektive

Vogelperspektive

#Perspektive:Blickwinkel:Vogelperspektive

Die Vogelperspektive umfasst extreme und weniger extreme Blickwinkel. Da die Vogelperspektive – wie die Froschperspektive – aber nicht senkrecht oder fast senkrecht ausgerichtet ist, kommt es zusätzlich auf die Situation und den Kontext an, ob man die Sicht als extrem oder weniger extrem empfindet.

Verschiedene extreme Bildwinkel

So wie der Blickwinkel extrem werden kann, kann auch der Bildwinkel extrem sein und zu Störungen oder Verzerrungen der Perspektive führen. Für extreme Bildwinkel ist es sinnvoll eigene Kriterien aufzustellen, obwohl Objektive mit extremen Bildwinkeln zur Zeit, als das Neue Sehen entstanden ist, noch nicht für Kleinbildkameras zur Verfügung standen. Es handelt sich um Optionen, die später verfügbar wurden. Wir möchten den Problemraum des Neuen Sehens aber auch für aktuelle und wenn möglich auch für zukünftige Möglichkeiten aufspannen.

Extremes Tele

#Perspektive:Bildwinkel:ExtremesTele

Sehr kleine Bildwinkel, die kleiner als sind, als zehn Grad in der Bilddiagonalen (~250mm Brennweite bei Kleinbildkameras), rücken die weit entfernten Objekte oft optisch nah zusammen, so dass die Aufnahme weniger räumlich und mehr flächig wirkt. Legendär sind die flächigen Teleaufnahmen von Andreas Feininger, der sich dazu eigene Teleobjektive baute.

Extremes Weitwinkel

#Perspektive:Bildwinkel:ExtremesWeitwinkel

Sehr große Bildwinkel können Linien im Bild tonnen- oder kissenförmig verzeichnen. Der Maßstab, in dem ein Objekt abgebildet wird, ändert sich von der Bildmitte zu den Rändern. Das kann auch die Länge von Linien optisch verändern.

Fischauge

#Perspektive:Bildwinkel:Fischauge

Als das Neue Sehen entstand, gab es noch keine Fischaugen-Optik zu kaufen. Mit Fischaugenobjektiven ergeben sich aber weitere Möglichkeiten die Gewohnheiten des Auges beim Bildaufbau zu stören.

Die verschiedenen Schrägsichten

Schrägsichten gehören zu den ungewöhnlichsten Perspektiven, die in der Fotografie und im Film der 1920er Jahre eine außerordentliche Bedeutung hatten, weil sie den fotografischen Blick auf das Wirkliche so verfremden konnten, dass das Gezeigte neu und erregend erschien.

Diagonale Schrägsicht

#Perspektive:DiagonaleSchrägsicht

Bei der diagonalen Schrägsicht wird die Kamera nach links oder rechts gekippt, bis man die Mitte zwischen Hoch- und Querformat erreicht hat. Horizontale und vertikale Linien werden dadurch zu Diagonalen.

Komponierte Schrägsicht

#Perspektive:KomponierteSchrägsicht

Bei der komponierten Schrägsicht wird die Kamera nach links oder rechts gekippt, bis sich im Bild nach weiteren Kriterien des Bildaufbaus eine harmonische Komposition ergibt. Wann das Kippen abgebrochen wird hängt von dem Kriterium oder den Kriterien ab, die für die harmonische Komposition herangezogen werden.

Störungen und Täuschungen des perspektivischen Sehens

Erzwungene Perspektive

#Perspektive:Erzwungene Perspektive

#Perspektive:Erzwungene Perspektive

Eine erzwungen Perspektive ergibt sich, wenn das Auge bzw. das Gehirn beim Betrachten eines Bildes aus perspektivischen Überlegungen einen Zusammenhang herstellt, der nicht real ist. Wenn es beispielsweise so aussieht, als würde ein Mann im weiteren Hintergrund auf einer Flasche im Vordergrund stehen, so wird der Mann im Vergleich zur Flasche durch die erzwungene Perspektive zum Winzling gemacht, der auf der Flasche steht.

Ohne perspektivische Raumanschauung

#Perspektive:OhnePerspektivischeRaumanschauung

Erwin Panofsky legt den Begriff der perspektivischen Raumanschauung wie folgt fest: „[…] wir wollen da, und nur da, von einer im vollen Sinne „perspektivischen Raumanschauung“ reden, wo nicht nur einzelne Objekte, wie Häuser oder Möbelstücke, in einer „Verkürzung“ dargestellt werden, sondern wo sich das ganze Bild […] gleichsam in ein „Fenster“ verwandelt hat, durch das wir in den Raum hindurchzublicken glauben sollen – wo also die materielle Mal- und Relieffläche […] zu einer bloßen Bildebene umgedeutet wird, auf die sich ein und durch sie hindurch erblickter und alle Einzeldinge in sich umfassender Gesamtraum projiziert – wobei es nichts verschlägt, ob diese Projektion durch den unmittelbaren sinnlichen Eindruck oder durch eine mehr oder minder „korrekte“ geometrische Konstruktion bestimmt wird.“4 Bilder, die eine solche Projektion nicht erlauben, sind Bilder ohne perspektivische Raumanschauung.

Fragmentarischer Bildausschnitt ohne perspektivische Raumanschauung

#Perspektive:FragmentarischerBildausschnittOhnePerspektivischeRaumanschauung

Der Bildausschnitt wird so eingeengt, dass keine perspektivischen Linien und auch kein Fluchtpunkt dem Auge helfen, den Raum aufzubauen. Dazu gibt es von Alexander Rodtschenko und Raoul Haussmann Aufnahmen, die scheinbar genau mit der Absicht gemacht sind, die Wahrnehmung beim Bildaufbau zu behindern. Viele Aufnahmen, die von oben-nach-unten erfolgen, haben eine Flächigkeit, die auf das Fehlen perspektivischer Linien zurückzuführen ist. Wird ein solcher Effekt durch das Einengen des Bildausschnitts erzielt, dann erfüllt das Bild die Qualität Fragmentarischer Bildausschnitt ohne Fluchtpunkt.

Verzerrung der Perspektive

#Perspektive:Verzerrung der Perspektive

Bilder weisen eine Verzerrung der Perspektive auf, wenn im Bild beispielsweise Zerrspiegel vorhanden sind. Auch die Optik eines Spezialobjektivs kann verzerren.

Sonstige experimentelle Ergebniskriterien

Hell-Dunkel-Muster

#Beleuchtung:HellDunkelMuster

Die Beleuchtung der fotografierten Szene erfolgt durch eine zum Teil lichtdurchlässige Fläche, die als Gobo5 funktioniert und ihr Muster auf die Szene legt. Das kann ein Gitter, eine Gardine mit Muster, etc. sein. Der Gobo kann außerhalb oder innerhalb des Bildausschnittes liegen.

Mehrfachbelichtungen

#Belichtung:Mehrfachbelichtung

Ein analoger Film wird mehrfach belichtet oder – in der digitalen Fotografie – werden zwei Aufnahmen mit Transparenztechniken so übereinander gelegt, dass sich eine Aufnahme mit normaler Belichtung ergibt.

Fotomontage

#Verwendung:Fotomontage

Mehrere Fotografien, Texte und grafische Elemente werden zu einem Bild montiert.

Prozesskriterien

Prozesskriterien sind weniger abstrakt als Ergebniskriterien und sollten nur dann eine Rolle spielen, wenn es nicht möglich ist, den gleichen Sachverhalt mit leicht überprüfbaren Ergebniskriterien zu prüfen. Die im folgenden dargelegten Prozesskriterien steigern sich von Serienkriterien, die nicht an Bilder sondern an das Erstellen einer Serie geknüft werden, bis hin zu Kriterien, die für das Weltbild und die Weltsicht des oder der Künstler verantwortlich sind.

Zu einer Serie von Bildern

Prozesskriterien können zu einer Serie von Bildern festgelegt werden.

Charakterisierende Serie

#Serie:CharakterisierendeSerie

Rodtschenko fand eine Mappe mit vielen verschiedenen Fotografien, die eine Person wahrheitsgetreu und wahrhaftig zeigen – also so zeigen, wie die Person wirklich ist, für die Person charakteristischer als die damals vorherrschenden, idealisierten Portraits, die er wegen ihrer Idealisierungen für verlogen hielt. Andreas Feininger kreiste Objekte, Personen, etc. eher mit verschiedenen Perspektiven ein, um für sich die beste in einem bestimmten Kontext zu finden. Kombiniert man beide Auffassungen, erhält man eine charakterisierende Serie zu einer Person, einem Objekt, einem Sachverhalt, etc.

Charakterisierendes Serienkonzept

#Serie:CharakterisierendesSerienkonzept

Ergänzt man eine charakterisierende Serie um ein Konzept, das die Serie erklärt und festlegt, ist das Kriterium eines charakterisierenden Serienkonzepts erfüllt. Das charakterisierende Serienkonzept stellt – in der Weltsicht des Künstleringenieurs – das künstlerische und fotografische Problem einer Serie auf. Dazu können auch Einzelkriterien gehören, die für die ganze Serie vorgegeben werden.

Metakriterien

Metakriterien sind Kriterien, die sich über mehrere logische Ebenen spannen. Die Wahrheit ist ein semantisches Metakriterium, das sich über die Objekt- und Metasprache spannt. Hier sind Kriterien gemeint, die sich über mehrere logische Ebenen des Prozesses spannen.

Emotionaler-warm-kalt-Kontrast

#Meta:EmontionalerWarmKaltKontrast

Ein sachliches, objektives und realistisches (Stil-)Element wird gegen ein emotionales (Stil-)Element gesetzt, das auf einer anderen logischen Ebene angesiedelt ist. Das „Prinzip des Kontrapunkts“, wie ein Kritiker es nannte, scheint in Rodtschenkos Portraits zur Anwendung zu kommen. In einem kälteren, technischeren Medium kann sich Rodtschenko erlauben, die Inhalte emotional und menschlich zu gestalten, ohne dass das Ergebnis kitschig oder mit Klischees überladen daher kommt. Seine Aufnahmen von Majakowski aus dem Jahr 1924, auf denen ein finsterer, äußerst verletzlicher Mensch zu sehen ist, weisen einen Emotionalen-warm-kalt-Kontrast auf. Dasselbe gilt für das Porträt seiner alternden Mutter, ebenfalls von 1924.

Zum künstlerischen Weltbild

Das Verhalten eines Menschen in der Kunst ist geprägt durch verschiedene Prinzipien, die er an seiner Sicht der Welt festmacht. Solche Prinzipien legt er explizit oder implizit an den Prozessen seiner Kunst an. Oft sind solche Prinzipien auch für ganze Künstlergruppen gültig.

Wahrhaftigkeit

#Weltbild:Wahrhaftigkeit

Wahrhaftigkeit bringt das Verhältnis eines Menschen zur Wahrheit oder Falschheit zum Ausdruck. Wahrhaftigkeit ist – anders als die Wahrheit – ein Prozesskriterium, da Wahrhaftigkeit die Denkhaltung eines Menschen bezeichnet, der nach Wahrheit strebt. Ein wahrhaftiger Mensch oder ein wahrhaftiger Prozess kann durch einen Irrtum Falsches hervorbringen. Eine Person oder ein Prozess ist aber nur dann wahrhaftig, wenn er die Bereitschaft zum Zweifel mit sich bringt, die bereit ist, jede Wahrheit zu überprüfen.

Aufklärung

#Weltbild:Aufklärung

Aufklärung beruft sich auf die Vernunft, nutzt die Erkenntnisse der Natur- und Ingenieurwissenschaften, kämpft gegen Vorurteile und plädiert für religiöse Toleranz. Gesellschaftspolitisch zielte die Aufklärung auf mehr persönliche Handlungsfreiheit, Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht. Die Vertreter der Aufklärung strahlen den Optimismus aus, dass eine an der Aufklärung orientierte Gesellschaft die Hauptprobleme menschlichen Zusammenlebens schrittweise immer besser lösen wird.

Konstruktive Kunst

#Weltbild:KonstruktiveKunst

Eine Kunst, die nicht dafür gedacht ist, in Museen, in Galerien, in Fürstenhäusern, bei Sammlern, ausgestellt oder eingelagert zu werden, sondern eine Kunst, die in Magazinen, Zeitschriften, der Werbung, bedruckten Stoffen, Schnittmustern, Collagen, etc. ins Leben einer klassenlosen Gesellschaft eingeht und zu der alle Menschen Zugang haben. Konstruktive Kunst in diesem Sinne ist bis heute eine (naive) Utopie, weil es bis heute keine klassenlose Gesellschaft gibt, wenn es um die Kunst geht, obwohl sich die gesellschaftlichen Verhältnisse seit der russischen Avantgarde und dem Bauhaus verbessert haben.

Individuelle Stilkriterien

Die bisherigen Kriterien reichen nicht aus, um den individuellen Stil bahnbrechender Fotografen wie Alexander Rodtschenko oder László Moholy-Nagy zu erklären. Sie sind auch nicht hinreichend, um gute Bilder zu machen, die der Stilrichtung des Neuen Sehens mit Rodtschenko-Perspektiven entsprechen. Die Kriterien spannen aber einen Problemraum auf, in dem man nach guten, eigenen Lösungen suchen kann. Die Kriterien helfen die Eigenheiten des Neuen Sehens zu verstehen und zu sehen, was es von anderen Stilrichtungen unterscheidet.

Wenn man sich mit den Kriterien auseinandersetzt, dann wird auch deutlich, mit welchen weiteren Kriterien sie verträglich sind. Es ist beispielsweise leicht verständlich, dass sich die meisten Rodtschenko-Perspektiven nicht mit den realistischen Perspektiven der Reinen Fotografie oder der Neuen Sachlichkeit vertragen. Dagegen kann man weiterhin Objekte nach dem goldenen Schnitt oder nach der Drittelregel plazieren oder Linien daran ausrichten. Viele Kriterien, die eine gute Komposition begünstigen, können mit den Kriterien, die den Problemraum des Neuen Sehens aufspannen, kombiniert werden. Im Zweifelsfall lässt sich die Kombination von Kriterien, die den eigenen Stil prägen, mit jenen, die ein fotografisches Problem aufspannen, beim Fotografieren ausprobieren.

Beschränkung auf das Fotografieren mit Kameras

Wir beschränken uns an dieser Stelle darauf, das Problem des Neuen Sehens für das Fotografieren mit handlichen Kameras aufzustellen. Damit stellen wir keine speziellen Kriterien für andere fotografische Techniken wie das Fotogramm auf, obwohl Fotogramme zur experimentellen Fotografie der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts gehören. Es handelt sich um eine fotografische Technik ohne Kamera, die auf Man Ray (Rayografie/Rayogramm) und Moholy-Nagy (Fotogramm) zurückgeht. Auch andere Techniken, die Moholy-Nagy in „Sehen in Bewegung“ hervorhebt, werden wir nicht berücksichtigen. Kriterien aus dem Bereich von fotografischen Techniken ohne Kamera sehen wir für den erweiterten Problemraum der experimentellen Fotografie, der separat behandelt werden kann und auch sollte.

Fussnoten

1Zitiert nach: https://annawiederaenders.wordpress.com/2013/09/16/alexander-rodtschenko-revolution-der-fotografie/

2In Anlehnung an Gregory Bateson und seine Unterschiede, die einen Unterschied machen. Bei Bateson handelt es sich um Unterschiede, die als Unterscheidungen in die Modellbildung eingehen. Solche Unterschiede müssen relevant für die Modellbildung sein.

3Hans Jürgen Wulff, Die Dramaturgien der schrägen Kamera: Thesen und Perspektiven, in: Die schräge Kamera. Formen und Funktionen der ungewöhnlichen Kameraperspektive in Film und Fernsehen (Themenheft zu IMAGE 1).

4Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“, 1927, in: Erwin Panofsky, Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1980, S. 99-167.

5Gobo steht für: Graphical optical blackout

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