Die folgenden Übungen werden ein tiefer gehendes Verstehen einer Hauptströmung des Neuen Sehens vermitteln, als es das reine Betrachten von Fotografien herstellen könnte. Selbstverständlich können Sie die Übungen auch alleine machen. Möglicherweise wird Ihnen das Organisieren einer Gruppe jedoch mehr Fortschritte bringen, weil Sie in einem gemeinsamen Lernraum und im Austausch mit anderen Gleichgesinnten mehr Kenntnisse erwerben.
Vorbereitende Übungen
Bei den vorbereitenden Übungen geht es darum, sich selbst ein Bild über das Neue Sehen, Alexander Rodtschenko und László Moholy-Nagy zu machen. Dazu eignet sich das Internet oder Sie schauen in eine unserer Buchempfehlungen. Ihre Internetrecherche können Sie mit den Informationen und Links auf unserer Seite Zen 42 ergänzen, die Sie ebenfalls bei den Empfehlungen am Ende des Übungsbuches finden.
Übung 1 (Recherche)
Sie können die Recherche jederzeit durch Fragen ergänzen, die Ihnen nach dem Lesen des Textes wichtig sind.
1.1. Suchen Sie mit einer Bildersuchmaschine nach den Bildern von Alexander Rodtschenko (Rodchenko im Englischen). Halten Sie dabei insbesondere auch nach den Fotografien mit den Titeln „Treppe“, „Pioniermädchen“, „Pionier-Trompeter“, „Mädchen mit Leica“, etc. Ausschau.
1.2. Informieren Sie sich über das Leben von Alexander Rodtschenko. Bevor Sie mit der Recherche beginnen, können Sie sich zunächst Fragen überlegen: Wie hat er gelebt, was hat ihn geprägt, […] ?
1.3. Informieren Sie sich im Anschluss über das Leben von László Moholy-Nagy. Was fällt Ihnen hierbei im Vergleich zu Rodtschenko auf, […] ?
1.4. Nachdem Sie sich nun ein umfassendes Bild der beiden Fotografen gemacht haben, suchen Sie nun nach relevanten Informationen zum Neuen Sehen.
1.5. Machen Sie sich ein eigenes Bild über den Ansatz des Bauhauses und den Künstleringenieur.
1.6. Informieren Sie sich über die Perspektive im System von Film und Fotografie. Schauen Sie sich zuvor das Kapitel „Tags und Bezeichnungen der Perspektive“ an.
Übung 2 (Übungsprogramm)
Auch beim Erforschen des weiteren Übungsprogramms können Sie eigene Ideen einbringen.
2.1. Werfen Sie einen Blick auf die fotografischen Übungen und schauen im Vorfeld, was diese verlangen.
2.2. Schauen Sie sich die Beispielbilder zu den Übungen an. Sie finden die Links zu den Beispielbildern bei den Empfehlungen ganz am Ende des Buches. Was fällt Ihnen dabei auf den ersten Blick auf? Notieren Sie sich Ihre Gedanken dazu.
2.3. Bereiten Sie die Planung (Übung 3) vor, indem Sie im Internet auskundschaften, welche Hochhäuser, Trabantenstädte, etc. für Sie in Frage kommen.
2.4. Für das Schrägstellen der Kamera bei einer Schrägsicht braucht man ein oder mehrere Abbruchkriterien, die das Schrägstellen abbrechen, wenn sich im Bildausschnitt eine Komposition ergibt. Bei Rodtschenko war das Abbruchkriterium oft, dass sich starke Diagonalen oder Gegendiagonalen im Bild manifestierten. Man kann aber auch die Linien des Bildes nach Maßgabe des goldenen Schnitts ausrichten oder wichtige Objekte außermittig auf die Bilddiagonalen legen, etc. Es empfiehlt sich, sich dabei (mit der Kamera in der Hand) zu überlegen, welche der bisherigen Stilkriterien für den eigenen Bildaufbau sich in dem Fall auch als Abbruchkriterium für Schrägsichten eignen.
Übung 3 (Planung)
Konzipieren Sie einen Plan für die fotografischen Übungen und deren Nachbereitung. Passen Sie die Übungen gegebenenfalls an Ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten an.
3.1. Legen Sie Ihre Ziele fest (möglicherweise in der Gruppe)
3.2. Legen Sie für diese einen groben Zeitplan fest, wann Sie welche Übungen machen wollen.
3.3. Legen Sie für die erste Übung Termine fest:
- Vorbereitung der Übung (siehe nächste Aufgabe)
- Fotografieren
- Entwicklung
- Bildanalyse
- etc.
3.4. Kontrollieren Sie Ihren groben Zeitplan nach jeder Übung und planen Sie die nächste Übung ein.
Fotografische Übungen
Bei den fotografischen Übungen geht es zunächst darum, herauszufinden, ob und wie sich die extremen Perspektiven des Neuen Sehens mit dem eigenen fotografischen Stil vertragen. Die Aufgaben bringen Sie dazu, aus Ihrer Routine beim Fotografieren auszubrechen. Wenn das Ausbrechen aus der Routine gelingt, werden Sie die Chance haben, sich selbst etwas Neues beizubringen. Dadurch lernen Sie, Ihren eigenen Stil weiter zu entwickeln und nicht wie ein „Anderer“ oder eine „Andere“ zu fotografieren. Auch wenn Sie die Stilmittel des Neuen Sehens ausprobieren, werden Sie dadurch noch lange nicht zu einem Alexander Rodtschenko oder einem László Moholy-Nagy. Beide hatten eine Vergangenheit als Maler und Künstler, bevor Sie mit dem Fotografieren begannen. Sie haben jede Menge andere Überzeugungen und Stilmittel in ihre Fotografien eingebracht. Während der Übungen geht es darum, Ihre eigenen fotografischen Fähigkeiten durch Übungen und Aufgaben weiterzuentwickeln und Ihr individuelles Repertoire zu erweitern.
Übung 4 (Hochhaus)
4.1. Suchen Sie sich ein Hochhaus oder das höchste Gebäude der Gegend aus und fotografieren Sie es ausschließlich in der von-unten-nach-oben-Perspektive.
4.2. Kombinieren Sie die von-unten-nach-oben-Perspektive mit der komponierten Schrägsicht und verwenden Sie Stilmittel der eigenen Ästhetik als Abbruchkriterium für das Schrägstellen. Also beispielsweise Schrägstellen bis die Hauptlinien des Bildausschnitts zu Diagonalen geworden sind oder die Linien einem Schnittmuster des goldenen Schnitts entsprechen. Als Erweiterung der Aufgabe bricht man das Schrägstellen erst ab, wenn mehrere Kriterien in harmonischer Weise erfüllt sind.
4.3. Konzipieren Sie sich eine eigene passende Aufgabe
Übung 5 (Fußgängerunterführung)
5.1. Suchen Sie sich eine Fußgängerunterführung – idealerweise mit Fahrradweg – oder etwas ähnliches aus und fotografieren Sie es ausschließlich in der von-oben-nach-unten-Perspektive. Wenn dort noch eine Baustelle ist, werden die Motive interessanter. Sie finden die Links zu den Beispielbildern bei den Empfehlungen ganz am Ende des Buches.
5.2. Kombinieren Sie die von-oben-nach-unten-Perspektive mit der komponierten Schrägsicht. Verwenden Sie dabei Stilmittel der eigenen Ästhetik als Abbruchkriterium für das Schrägstellen. Also beispielsweise Schrägstellen, bis mehrere Kriterien des eigenen Fotostils (goldener Schnitt, Texturgradient, Ähnlichkeit, … ) in harmonischer Weise erfüllt sind.
5.3. Konzipieren Sie sich eine eigene passende Aufgabe
Übung 6 (Trabantenstadt)
6.1. Porträtieren Sie eine Trabantenstadt in ihrer Nähe, so wie Rodtschenko das neue Moskau porträtierte.
6.2. Vergleichen Sie die städtebaulichen Ziele, die man mit dem Bau der Trabantenstadt hatte, mit der aktuellen Situation vor Ort.
6.3. Machen Sie eine Charakterisierende-Serie über die aktuelle Situation der Trabantenstadt.
6.4. Überlegen Sie, wie Sie die „verfehlten Ziele“ der Trabantenstadt fotografisch einfangen können.
6.5. Denken Sie über die Unterschiede zwischen einer charakterisierenden Serie zu einer Trabantenstadt und einem charakterisierenden Serienkonzept zu Trabantenstädten nach.
6.6. Wie könnte ein Serienkonzept zu Trabantenstädten mit dem Prozesskriterium „Aufklärung“ aus Rodtschenkos Weltbild in Einklang gebracht werden.
6.7. Konzipieren Sie sich eine eigene passende Aufgabe.
Übung 7 (Portraits)
7.1. Machen Sie Aufnahmen von den Menschen, mit denen Sie leben und die Ihnen vertraut sind. Fotografieren Sie sie dabei bewusst in Alltagssituationen.
7.2. Machen Sie Portraits im Stil von Rodtschenko‘s Pioniermädchen.
7.3. Erstellen Sie zuletzt Porträts im Stil von Rodtschenko‘s Pioniertrompeter, bei denen der/die Porträtierte einen Gegenstand (Trompete, Fotoapparat, etc.) in der Hand hält. Damit ein Gegenstand als solcher erkannt wird, muss er nicht vollständig fotografiert sein. Gehen Sie bewusst näher ran! Es muss nicht die ganze Trompete im Bild sein, damit sie als solche erkannt wird.
7.4. Wiederholen Sie die Übungen 7.1. bis 7.3. und achten Sie bei weiteren Portraits auf ungewöhnliche Bildausschnitte, wie es Rodtschenko beim Portrait seiner Mutter gemacht hat.
7.5. Konzipieren Sie sich eine eigene passende Aufgabe.
Übung 8 (Inszenierung)
8.1. Suchen Sie sich zwei Partner, die ebenfalls Interesse an inszenierter Fotografie haben und mit denen Sie gemeinsam das Inszenieren üben können. Bei der Übung nehmen Sie reihum folgende Rollen ein:
- Fotograf, der inszeniert,
- Fotograf, der durch den Fotograf, der inszeniert, inszeniert wird und
- Fotograf, der den Fotografen, der inszeniert, wahrheitsgemäß in seiner Funktion als Fotograf dokumentiert.
8.2. Variieren Sie die vorherige Aufgabe, indem Sie von Inszenierung auf Selbstinszenierung wechseln:
- Fotograf, der sich selbst inszeniert,
- Fotograf, der den sich selbst inszenierenden Fotografen nach dessen Anweisungen fotografiert, und
- Fotograf, der den Fotograf, der wiederum den sich selbst inszenierenden Fotografen fotografiert, wahrheitsgemäß in seiner Funktion als Fotograf dokumentiert.
8.3. Machen Sie sich die Zusammenhänge zwischen folgenden Begriffen klar: Wirklichkeit, Metaebenen, Inszenierung, etc. und den Weltbild-Kriterien wie Aufklärung, Wahrhaftigkeit, etc. anhand der Erlebnisse und der Fotografien aus den Übungen 8.1. und 8.2.
Nach dem Fotografieren
Übung 9 (Entwicklung)
9.1. Man entwickelt die Aufnahmen in Schwarz-Weiss. Idealerweise mit mehreren, verschiedenen Entwicklungszielen: klassisches Schwarz-Weiss, Erhöhen der Kontraste bis die Linien des Bildes gestärkt werden, etc.
9.2. Man entwickelt die Aufnahmen in Farbe. Idealerweise mit mehreren, verschiedenen Entwicklungszielen: Bunt und emotional (amerikanisch), mit reduzierten Farben, mit neutralen Farben, etc.
9.3. Man sucht einen Entwicklungsstil, der gut zu den gemachten Bildern passt, und entwickelt alle Bilder der Serie in diesem Stil. (Nicht schummeln! Bereits erstellte Entwicklungsvorlagen, dienen nur als Ausgangspunkt der Suche.)
9.4. Konzipieren Sie sich eine eigene passende Aufgabe.
Übung 10 (Analyse)
10.1. Werfen Sie nun einen Blick auf sich selbst. Analysieren Sie, ob Sie es geschafft haben, die Stilmittel des Neuen Sehens anzuwenden und ob es möglich war, diese harmonisch miteinander zu kombinieren.
10.2. Analysieren Sie weitere, eigene Stilmittel, die in Ihre Aufnahmen mit eingeflossen sind.
Nach dem Fotografieren ist vor dem Fotografieren.
Beurteilen Sie selbstkritisch Ihre Fortschritte und planen Sie gegebenenfalls die nächste Runde Ihrer Übungen. Überlegen Sie sich aber auch die Umstände, unter denen Sie die Übungen lieber abbrechen, um sich mit anderen fotografischen Themen auseinanderzusetzen.