„Ich habe die Malerei zu ihrem logischen Ende gebracht und habe drei Bilder ausgestellt: ein rotes, ein blaues und ein gelbes, und dies mit der Feststellung: Alles ist zu Ende. Es sind die Grundfarben. Jede Fläche ist eine Fläche und es soll keine Darstellung geben. Jede Fläche hat bis an ihre Grenzen eine einzige Farbe.“
Alexander Rodtschenko
Alexander Rodtschenkos ist einer unserer Helden in der Fotografie. Sein Werk ist in den letzten 20 Jahren weltweit gewürdigt worden. Bevor er die Fotografie für sich entdeckte, hatte er sich bereits als einer der führenden Künstler des russischen Konstruktivismus etabliert. Seine Fotografie verstand sich als radikaler Bruch mit den Traditionen in der Kunst. Der Blick der Künstler sollte revolutioniert werden. Das Neue Sehen sollte die Gesellschaft und die Menschen verändern – ganz im Sinne revolutionären Aufklärung.
Alexander Rodtschenko war ein junger Künstler der 1917 im existenzialistischen Sinne in die Oktoberrevolution geworfen wurde und sich nach der Revolution für den Aufbau neuer Strukturen der künstlerischen Produktion in der jungen Sowjetunion engagierte und dann am Stalinismus zerbrach.
Alexander Rodtschenko war eine der Leitfiguren des Neuen Sehens, auch wenn er vielleicht nicht der Erste war, der das Neue Sehen erprobte. Es war seine Einstellung zur Kunst und Fotografie, die sein Werk besonders machen: „Die interessantesten Blickwinkel sind zur Zeit von oben nach unten und von unten nach oben, und an ihnen muss man arbeiten. Ich will sie bestätigen, erweitern, zu ihnen erziehen. Wie für jeden gebildeten Menschen ist es für mich uninteressant, wer A gesagt hat, wichtig ist es, dieses A auszuweiten, und bis zum Ende durchzuarbeiten, um die Möglichkeit zu bekommen, B zu sagen“.
Rodtschenko war bereits ein erfolgreicher Maler gewesen, bevor er sich dem Fotografieren zuwandte. Er war aber auch Gestalter, Grafiker und Designer und entwickelte als erster sowjetischer Künstler Fotomontagen und Collagen. Berühmt ist seine kühne Buchgestaltung für Majakowskis episches Liebesgedicht Pro Eto, die ihn auch zu einem Pionier der modernen Typografie machte. Er engagierte sich auch gleich nach der russischen Revolution für die neue revolutionäre Regierung. Schon ab 1918 arbeitete er für das Moskauer Büro der Abteilung Bildende Künste im Volkskommissariat für Aufklärung (IZO Narkompros). Später wurde er zum Leiter des Museums-Büros der IZO Narkompros in Moskau und so auch zum Leiter des Museum für Malerei ernannt. Rodtschenko wollte an eine Revolution glauben, die dem neuen Sowjetmenschen ein Versprechen von Freiheit und einer neuen, besseren Welt gab. Und er wollte einer ihrer Künstleringenieure sein.
Rodtschenko gehörte dem russischen Konstruktivismus und somit auch der russischen Avantgarde an. Viele Künstler der russischen Avantgarde unterschrieben 1921 ein Manifest, das ihre Bereitschaft an die Kunstwelt adressierte, die Malerei aufzugeben und sich der Produktionskunst zu widmen. Im Manifest findet man folgende Aussagen, welche die Stimmung in der russischen Avantgarde beschreiben:1
„Nieder mit der Kunst, die nur ein Mittel ist,
aus einem Leben zu flüchten, das nicht lebenswert ist.“„Es ist an der Zeit, dass die Kunst organisiert ins Leben einfließt.“
„Ein bewusstes und organisiertes Leben,
die Fähigkeit zu sehen und zu konstruieren,
das ist moderne Kunst.“„Das konstruktive Leben ist die Kunst der Zukunft.“
Alexander Rodtschenko wollte dazu beitragen, die Kunst in den Mittelpunkt des Alltags zu rücken. Ab dem Jahr 1924 konzentriert er sich in seinem Schaffen deshalb immer mehr auf die Fotografie. Die Fotografie gab ihm die Möglichkeit, in den Alltag der Menschen einzudringen und führt Kunst und Technik in einer Art zusammen, die Rodtschenkos Ansichten bestätigen und die er parallel zum Bauhaus entwickelt. Er fotografiert nicht nur, sondern schreibt Essays über das Neue Sehen und die Fotografie, und zeichnet seine Erkenntnisse dazu in seinen Tagebüchern auf. Seine Untersuchungen, die er mit seiner Ehefrau Warwara Stepanowa entwickelt, haben keinen stilistischen Selbstzweck, sondern legen ein neues fotografisches Denken dar und formulieren eine neue Bildsprache zur Darstellung des „sowjetischen Themas“. Er balanciert künstlerisches, formales, technisches und inhaltliches aus, ist aber immer wieder Anfeindungen ausgesetzt, die seine Fotografien auf das Formale, stilistische Wie reduzieren und ihnen das inhaltliche Was absprechen wollen.
Für Alexander Rodtschenko war das Neue Sehen in der Fotografie eine seiner wichtigsten Entwicklungen in der Kunst und zusammen mit seiner Frau Warwara Stepanowa entwickelte er es zu einem System visueller Kommunikation. Neben der Revolution im Leben der Menschen suchte er auch die Revolution in der Fotografie: „Ich will ein paar unglaubliche Aufnahmen machen, die niemals zuvor gemacht wurden. Aufnahmen vom Leben, absolut real, Fotografien, die einfach und komplex zugleich sind, die Menschen erstaunen und überwältigen“.2 Um seinen Traum real werden zu lassen, arbeitete er mit Verfremdungen wie es in der Literatur und dem Theater üblich geworden war, brachte sein Wissen aus der Malerei in die Fotografie ein, baute sein geometrisches System wie in seiner Malerei auf Linien auf, benutzte extreme Auf- und Untersichten oft in Kombination mit Schiefsichten, die getragen vom Prinzip perspektivisch verkürzter Linien lebendige und tatsächlich überwältigende Aufnahmen von Straßenzügen, Alltagsszenen, technischen Bauten, Sport- und Produktionsstätten und vor allem vom neuen Sowjetmenschen zeigen, der in Rodtschenkos Augen mit einem kritischen Blick aber auch mit Zuversicht in die Zukunft sehen wollte.
Neben dem Bruch mit den tradierten Normen verfolgt das Neue Sehen nach Rodtschenko auch eine aufklärende Komponente: Das menschliche Auge sollte mit Hilfe der neuen Kleinbildkameras geschult werden, um es aufnahmefähiger für die neuen (An)Sichten zu machen. Hierfür eignen sich am besten bereits bekannte Motive und Genres, die durch neue ungewohnte Perspektiven verfremdet werden. Die extremen Auf-, Untersichten und Schrägsichten sollen den Betrachter dazu zwingen, die eigene Perspektive zu überdenken. Die Fotografie soll Denkprozesse auslösen, die wiederum den gesellschaftlichen und technischen Wandel und Fortschritt in Gang bringen und in Gang halten sollen.
Rodtschenkos Traum wurde durch den sozialistischen Realismus, der 1934 zum offiziellen Stil erklärt wurde, diffamiert und beendet, aber Rodtschenko sah sich bereits ab 1928 scharfer Kritik ausgesetzt. Repressionen veranlassten Rodtschenko dazu, sich mit der Gestaltung von Zeitschriften und Fotoreportagen sein Geld zu verdienen. Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens verbringt Rodtschenko in Verbitterung und Isolation. In seinem Tagebuch schreibt er kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: „Ich bin absolut nutzlos, ob ich arbeite oder nicht, ob ich lebe oder nicht. Ich bin jetzt schon so gut wie tot, und ich bin der einzige, den es interessiert, dass ich lebe. Ich bin ein Unsichtbarer.“
Alexander Rodtschenko und seine Frau Warwara Stepanowa wurden 1991 mit einer Retrospektive ihres Werkes in Wien und Moskau geehrt, das deutlich macht, wie wichtig ihre Zusammenarbeit war. Alexander Rodtschenko wurde 1998 durch eine Retrospektive seines Werks im MoMA New York geehrt. Die Ausstellung kam anschließend nach Deutschland und Schweden. Mögen viele seiner Fotografien ins kollektive Bildgedächtnis der Kunst einziehen und dort für immer verbleiben.
1 Sabine Lydia Schmidt, Родченко, Von oben nach unten und von unten nach oben, Die besondere fotografische Perspektive des Alexander Michailowitsch Rodtschenko, HFG Offenbach am Main 2013, S. 41f.
2 Zitiert nach: https://annawiederaenders.wordpress.com/2013/09/16/alexander-rodtschenko-revolution-der-fotografie/