„Die Zukunft ist unser einziges Ziel.“ Alexander Rodtschenko
„Die Zukunft braucht den ganzen Menschen.“ László Moholy-Nagy
Es sind ganz unterschiedliche Strömungen der Kunst mit dem Attribut Neues Sehen belegt worden. Manchmal bezeichnet das Neue Sehen die verschiedenen fotografischen Strömungen, die um 1920 in Europa, Nordamerika und Russland entstanden. Die Neue Sachlichkeit, die Straight Photography (Reine Fotografie) und die russischen Konstruktivisten um Alexander Rodtschenko und El Lissitzky – sie alle wendeten sich gegen die Fotografie ihrer Zeit. Sie wollten eine neue künstlerische Fotografie, die den Pictoralismus ersetzt, der mehr oder weniger die Fortsetzung der Malerei mit fotografischen Mitteln war.
Einige Fotografen waren direkt oder indirekt mit dem Bauhaus verbunden. Obwohl László Moholy-Nagy niemals die Fotografieklasse am Bauhaus betreute, war er die zentrale Figur der Fotografie am Bauhaus. Er schrieb, veröffentlichte und organisierte Veranstaltungen rund um Kunst und Fotografie, weil es ihm um die Zukunft der Fotografie als Kunst ging. László Moholy-Nagy stand mit vielen Künstlern und Fotografen aus aller Welt in Kontakt und viele Fotografen nahmen an den Ausstellungen und Veranstaltungen teil, die er organisierte.
Stellt man beispielsweise die Ausstellung FIFO des Werkbundes von 1929 in den Mittelpunkt des Neuen Sehens, dann vermischt man die Arbeit ganz unterschiedlich ausgerichteter Fotografen wie Edward Weston, Man Ray, Albert Renger-Patzsch, Alexander Rodtschenko, El Lissitzky, Imogen Cunningham, André Kertész, Umbo (Otto Umbehr), Sigfried Giedion, Helmar Lerski, Aenne Biermann, Werner Graeff und László Moholy-Nagy, um nur einige zu nennen. Diese Fotografen gehörten ganz unterschiedlichen Strömungen der Bereiche Kunst, Gestaltung und Fotografie an. Beispielsweise ist Renger-Patzsch einer der wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Edward Weston einer der wichtigsten Vertreter der Reinen Fotografie und Man Ray einer der wichtigsten Vertreter der Surrealen Fotografie. In einer solchen Interpretation des Neuen Sehens wird eine große Vielfalt von neuen Entwicklungen in der Fotografie in einen Topf geworfen.
Den sicherlich stärksten Einfluss aufeinander hatten in dieser Gruppe Moholy-Nagy und Rodtschenko, indem sie sich in den Anfängen der Bewegung des Neuen Sehens gegenseitig verstärkten. Beide haben ihre Perspektiven aber aus eigenem Antrieb und selbstständig entwickelte. Rodtschenko war in Russland gezwungen, von seiner Art zu Fotografieren Abstand zu nehmen – wollte er Stalin nicht verärgern und das war einem gut angeraten. Moholy-Nagy musste sich möglicherweise in den USA an den sich entwickelnden Mainstream der Reinen Fotografie anpassen. Dennoch gibt es einige bekannte Fotografen und Künstler, die mit dem Neuen Sehen flirteten, ohne sich ihm völlig hinzugeben. Raoul Hausmann hat bemerkenswerte Aufnahmen gemacht, bei denen das Auge beim Betrachten der Fotografie den Raum nicht durch perspektivische Linien aufbauen kann. Auch seine Aufnahmen beschäftigen sich mit unserer Wahrnehmung und wie unser Kopfkino Bilder aufbaut. Er ist möglicherweise der dritte Fotograf von Wichtigkeit in Bezug auf die Wahrnehmung und das perspektivische Sehen.
Viele andere haben auch mit den neuen Möglichkeiten des Sehens gespielt, aber weder ihr Fokus noch ihre Ausdauer oder ihre Anstrengungen reichen an die Arbeit von Rodtschenko oder Moholy-Nagy oder vielleicht noch Haussmann heran, da sie ihr künstlerisches Problem in anderer Weise aufstellten. Sie waren eher am Magischen, am Fantastischen, am Surrealen, am Sachlichen, am Objektiven, an der Perfektion der Fotografie selbst, etc. interessiert, als an den ganzen Menschen, die Moholy-Nagy und Rodtschenko in der Zukunft sehen wollten. Viele spielten mit den neuen Perspektiven, aber wenige erforschten sie. Sie wurden von Europa sogar in die Welt getragen. Beispielsweise bediente sich auch Berenice Abbott bei ihren New York Bildern hin und wieder extremerer Perspektiven. Aber im Vergleich zu Rodtschenko ist es bei Berenice Abbot eher eine Möglichkeit als ein zentrales Stilmittel.
Es gibt aber auch einen anderen Weg, sich dem Neuen Sehen zu nähern: man identifiziert die Hauptströmungen und Strömungen des Neuen Sehens, indem man sie anhand von stilbildenden Kriterien unterscheidet. Zen 42 beginnt mit dieser Aufgabe und analysiert das fotografische Werk von Alexander Rodtschenko. Es nähert sich dem Neue Sehen zunächst, indem es sich auf Alexander Rodtschenko’s Stilmittel der neuen Perspektiven beschränkt und seine Stilmittel so minimalistisch beschreibt, dass sie große Teile des Neuen Sehens erklären, aber befreit sind von den Eigenheiten anderer Stilrichtungen wie der Neuen Sachlichkeit, der Reinen Fotografie oder der Surrealen Fotografie. Dann kann man die Aufstellung des Problems am zweiten Hauptvertreter des Neuen Sehens messen: László Moholy-Nagy.
Wie sich herausstellen wird, kann man eine Strömung des Neuen Sehens beispielsweise auf das perspektivische Sehen und unsere Wahrnehmung des Raumes in Fotografien einschränken. Im Grunde handelt es sich dann um das Neue Sehen des Fotografen. Oder man kann die Strömung des Neuen Sehens weiter fassen und es kommen noch wesentliche Teile der Experimentellen Fotografie dazu. Nimmt man die fehlenden Teile der Experimentellen Fotografie dazu, ergibt sich eine Hauptströmung des Neuen Sehens.
Ein solches Vorgehen wird uns helfen, das Problem des Neue Sehens immer besser und irgendwann vielleicht lösungs- und paradigmenneutral aufzustellen. Wenn wir das Problem des Neuen Sehens auf diese Weise zufriedenstellend aufgestellt haben, können wir sehen, welche Fotografen den Stilmitteln des Neuen Sehens ganz, teilweise oder gar nicht folgten. Aber es geht nicht alleine darum, das historische Material zu ordnen und zu verstehen, sondern zukünftigen Fotografen die Möglichkeit zu geben, das Problem des Neuen Sehens in der Zukunft immer besser aufzustellen und es fortzuführen, da es möglicherweise noch nicht an seinem Ende angekommen ist. Das scheint insbesondere für jene Teile des Neuen Sehens zu gelten, denen sich Alexander Rodtschenko gewidmet hat und in denen es um die Rolle des Künstleringenieurs geht.