Seit Leonardo da Vinci sollte eigentlich hinreichend bekannt sein, dass es sowohl für die Kunst als auch für die Ingenieurskunst vorteilhaft ist, sowohl Künstler als auch Ingenieur zu sein. Beide geben Impulse, setzen Ideen in die Welt, träumen von einer besseren Zukunft, stellen Visionen auf und sprühen vor Phantasie und Kreativität, wenn sie über einem Problem brüten. Gute Ingenieure und Künstleringenieure gehen ihre Probleme ganzheitlich an, benutzen alle Sinne und alle bekannten Messverfahren und arbeiten mit allen relevanten wissenschaftlichen Ergebnissen. Insbesondere sind sie auf dem Stand der Technik und auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis ihrer Zeit und trotz aller Technik, steht der Mensch – direkt oder indirekt – im Mittelpunkt ihres Denkens.
Bei ihrer Arbeit entwickeln große Künstler und große Ingenieure seit Leonardo da Vinci sowohl eine außerordentliche Beharrlichkeit beim Stellen von Fragen (an ihre Probleme) als auch bei deren Beantwortung. Auf diese Weise können nachhaltige Lösungen entstehen, wenn Probleme durch Fragen und Antworten mit Hilfe von lösungsneutralen Vergleichskriterien aufgestellt werden. Alexander Rodtschenko wollte ein Künstleringenieur dieser Art sein. Auch am Bauhaus wurden ähnliche Ziele verfolgt. Es war aber Le Corbusier, der in dieser Zeit das Problem des Wohnens aufstellte und in der Architektur und der Kunst genauso vorging, wie es die Ingenieure im Maschinenbau machten.
Le Corbusier dürfte damit einer der ersten in der modernen Welt gewesen sein, der ein Problem der Kunst ingenieurwissenschaftlich aufgestellt hat. Betrachtet man die weitere Historie in den Ingenieurwissenschaften und der Architektur, und verfolgt manche Diskussionen in der Kunst, dann kann man mehrere Einsichten gewinnen.
Das lösungsneutrale Aufstellen von Problemen:
Um ein Problem besser lösen zu können, ist es für einen Künstleringenieur notwendig, es so neutral wie möglich zu beschreiben. Ein Problem ist lösungsneutral aufgestellt, wenn alle Kriterien beschrieben sind, mit denen die verschiedenen Lösungen verglichen werden können. Ein Vergleichskriterium ist lösungsneutral, wenn es auf alle Lösungen anwendbar ist.
Keine Notwendigkeit besagt, wie das Problem aufzustellen ist.
Der Stil einer Lösung:
Verschiedene Lösungen können bei verschiedenen Vergleichskriterien ihren Schwerpunkt setzen. Durch das Setzen von Schwerpunkten bestimmen sie den Stil der Lösung.
Vergleichen von Lösungen:
Für die Wahl der besten Lösung oder der besten Lösungen ist es entweder erforderlich, dass eine Lösung alle Vergleichskriterien besser erfüllt als alle anderen (objektiv) oder dass man die Wichtigkeit der Vergleichskriterien (subjektiv) bewertet. Es ist eher selten, dass eine Lösung bei allen Vergleichskriterien besser ist und so ist es der Normalfall, dass man nur mit subjektiven Bewertungen eine beste Lösung bestimmen kann. Objektiv betrachtet, gibt es meist keine beste Lösung.
Die Unterscheidung von Problem- und Lösungsräumen in der Kunst:
Durch den Problemlösungsprozess kann ein Problem im Zeitablauf immer besser und nachhaltiger aufgestellt werden, indem weitere Vergleichskriterien dazu kommen oder vorhandene ersetzt werden. Wenn man Probleme der Architektur ingenieurwissenschaftlich aufstellen kann, indem man Vergleichskriterien bestimmt, die nur den Problemraum aufspannen, den Lösungsraum aber hinreichend für verschiedene Lösungen offen lassen, dann kann man auch andere Probleme der Kunst in dieser Weise aufstellen.1
Fortschritt:
Werden Probleme immer besser lösungsneutral aufgestellt, kann durch die unterschiedliche Stilbildung verschiedener Künstler Fortschritt für alle Kunstinteressierten entstehen. Anzustreben ist deshalb ein Stil-Pluralismus, der die Kunstbedürfnisse der Gesellschaft vollständig abdeckt. Für den Fortschritt werden immer wieder avantgardistische Stilrichtungen benötigt, die in den Mainstream eingehen, wenn die neuen Vergleichskriterien der Avantgarde für größere Teile der Gesellschaft akzeptabel und damit relevant werden.
Dieser Ansatz überzeugt, wenn der Künstler – ohne auf den Kunstmarkt zu schielen und schon beim Erstellen in Rechnung zu stellen, was er verkaufen kann – neue Qualitäten formuliert. Dieser Ansatz überzeugt auch dann, wenn sich die Qualität nicht sofort durchsetzt, weil sie für die Zeit zu weit fortgeschritten, zu naiv oder sonst ein zeitgenössisches Manko enthält. Diesem Ansatz folgend, werden wir später das Problem des Neuen Sehens bezogen auf die Rodtschenko-Perspektiven lösungsneutral aufstellen, indem wir die Vergleichskriterien des Neuen Sehens zur Beurteilung offen legen. Dabei werden wir uns insbesondere auf die neuen Perspektiven fokussieren, die Rodtschenko, Moholy-Nagy, Hausmann und andere beim Fotografieren mit den neuen Kleinbildkameras angewendet haben, weil sich diese Kriterien sehr einfach lösungsneutral formulieren lassen.
Natürlich geht das lösungsneutrale Aufstellen von Problemen in der Kunst weit über die Ansätze des Bauhauses hinaus. Das lösungsneutrale Aufstellen von Problemen und die Trennung von Problem und Lösungsraum war in dieser Zeit bestenfalls implizit im Denken verankert. Explizit wird es erst durch die umfassenden Arbeiten der modernen Ingenieurwissenschaft behandelt. Doch bevor wir das Problem des Neuen Sehens hinsichtlich der neuen Perspektiven aufstellen, werden wir noch das Vokabular zur Kameraperspektive einführen, das wir im Weiteren verwenden möchten.
Manche der Gespräche aus dem Buch Was ist gute Kunst? können diesem Ansatz folgend gedeutet werden. Was ist gute Kunst?, 2009, Hrsg. Wolfram Völcker, Vorwort von Gérard A. Goodrow, Zwölf Museumskuratoren diskutieren, wie Qualität von Kunstwerken beurteilt werden kann, Texte von: Katja Albers, Kathrin Becker, Klaus Bußmann, Alexander Dückers, Matthias Harder, Christoph Heinrich, Wulf Herzogenrath, Gudrun Inboden, Jeremy Lewison, Friedrich Meschede, Andreas Schalhorn, Michael Semff und Urs Stahel
Die Ateliers im Delta fühlen sich weder der Kunst noch der Wissenschaft alleine verpflichtet. Wir sind an den Grenzbereichen interessiert und finden sowohl Wissenschaft als Kunst, Kunst als Wissenschaft als auch jene Ingenieurwissenschaften wie die Architektur und die Designwissenschaften, die es geschaft haben Kunst und Wissenschaft zu vereinen, interessant.