AiD ART M 2024 – Judith Samen

Inszenierte Fotografie zieht sich als Hauptstrang durch Judith Samens Werk. Ihr Blick richtet sich auf die flüchtigen Zustände des menschlichen Seins und Daseins. Ihr Interesse sammelt solche Momente, um die Zusammenhänge verschiedener Lebensalter, verschiedener Generationen und der damit verbundenen menschlichen Beziehungen zu beleuchten. Die Requisiten ihrer Inszenierungen wurden in verschiedenen Traditionen immer wieder mit unterschiedlichen Bedeutungen beladen, so dass die Kommunikation ihrer Bilder mit Andeutungen, Mehrdeutigkeiten, Deutungsmustern, Deutungsversuchen, Deutungsmacht und Deutungshoheit spielt, ohne Deutungshoheit oder Deutungsmacht für sich in Anspruch zu nehmen.

Judith Samens Arbeiten bauen einen Spannungsbogen zwischen Traditionen und Irritationen auf. Ihre Arbeiten werfen Fragen auf, geben aber keine Antworten, damit sich das eigenständige Denken der Betrachterin und des Betrachters wie von selbst in Bewegung setzen kann. Ihre Bildsprache und die Kommunikation ist gerade wegen der fehlenden Deutungshoheit verbindlich.

In ihrer Arbeit pflegt sie eigene Traditionen. Seit mehr als 25 Jahren ist sie immer wieder in ihrem „extended studio“ in einem Haus in Amsterdam zu Gast. Das Haus steht seit 1640 und verfügt über eine Küche mit original Delfter Kacheln. Ihre erste Inszenierung in der Küche des Hauses entstand bereits 1994 und seither sind die Kacheln eine Quelle der Inspiration. Sie deuten jene zeitlose Stimmung und Intimität an, die an das Werk von Jan Vermeer van Delft erinnert. Vermeers Bild „het straatje“ zeigt zwar eine Hausansicht, aber der Vermeer kennende Betrachter vermutet im Haus auch eine Küche mit original Delfter Kacheln. Wer den eigenen Geist im Bild flanieren lässt, bemerkt die zeitlose Stimmung, die Vermeers und Samens Bilder in der Intimität des eigenen Geistes hervorrufen .

Im Jahr 2020 ergaben sich mit dem Fund einer passenden Seidenbluse neue Möglichkeiten und eine neue Bildkonstruktion. Neben den Kacheln mit ihren Ansichten der Delfter Welt zeigt auch die Bluse passende Ornamente, Raster und Muster. Sie umgibt das Kind wie die Kulturen, die Traditionen und die Kontexte, in denen es aufwächst. Welchen Einfluss üben sie auf das Kind aus? Engen sie die Entwicklung des Kindes zu sehr ein oder schützen sie es? Ist es eher ein Spiel oder schon der Ernst des Lebens? Welche Rolle spielt dabei die Zeit und wird sie, in Anspielung an Friedrich Schiller, unser Engel sein?

Apropos Engel, die quadratischen Stilikonen scheinen mit den sinnlichen Bezügen von Äpfeln und Trauben aus den Liebesliedern des alten Testaments zu spielen. Trotz der traditionellen Deutungen, Irritationen und Kontroversen, die das Hohelied Salomos im Christentum genauso wie in der Aufklärung bis in die heutige Zeit in vielen westlichen Traditionen ausgelöst hat, gelingt es den Bildern, die Irritationen und Kontroversen auch im fernen Osten und dem Rest der nicht christlichen Welt verständlich zu machen.

Das Bild „The Other Mother II“ scheint viele bereits angesprochene Bezüge aufzunehmen und sie aus einem weiteren Blickwinkel abzurunden. Im erzählerischen Kontext der Arbeit geht es um die Entwicklung von Rollenbildern über viele Generationen hinweg, um Familienstreitigkeiten und enttäuschte Erwartungen, um Lebensträume und das echte Leben; aber auch um die Heilung der dabei entstandenen Verletzungen.

Judith Samen trägt in „The Other Mother II“ das abgelegte Hochzeitskleid der verstorbenen Mutter einer befreundeten Künstlerin. Das Hochzeitskleid war eine Generation lang verwahrt worden und stand nun vor der Entsorgung. Dieses Kleid und seine Funktion wird untersucht und ihm kommt eine neue Rolle zu. Das Kleid einer anderen Mutter gelangt über deren Tochter an die Mutter im Bild und es wird zum Bildanlass. Das Hochzeitskleid trug die andere Mutter, als sie noch keine Mutter war. Das abgelegte, aber emotional hoch aufgeladene Kleidungsstück wird nun durch die Bildgebung einer neuen Würdigung zugeführt. Die Mutter im Bild trägt es in ihrer Verletzlichkeit stellvertretend für viele Andere sowohl mit Scham als auch mit Würde. Die Gesamtheit der Doppelungen vereinfacht die Komplexität der Beziehungen und bringt das Denken über viele Generationen hinweg in Schwung.

Ralf Jochen Moser

o.T. (het_keukentje_1/little_kitchen_1), 2020
Edition 10 (+ 2 EA.), Nr.4/10,
47x 66 x 3 cm Maß incl. Rahmen
permanent Inkjet auf Hahnemühle Fine Art Baryta 325 auf 2 mm Alu-Dibond, Kassettenrahmen Nussbaum
3400 €

o.T. (Äpfel), C-Print/Diaplex, glänzend, 2004,
Ed. 5+1 EA., Nr. 3/5,
60 x 60 cm,
4800 €

o.T. (LillyFüße/Trauben),C-Print/Diaplex, glänzend, 2004,
Ed. 5+1 EA., Nr. 4/5,
60 x 60 cm,
4800 €

Judith Samen, „The Other Mother II“, 2024,
Permanent InkJet-Print auf HM FineArt Pearl 285g,
30 x 45 x 3 cm,
Ed. 10
2250 €

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