AiD ART M 2024 – Jessen Oestergaard

Was mir Oestergaards vierte Bilder
aus der Edition ‹ Was mir der Rhein erzählt › auf den Metaebenen
des Lebens, des Lernens, des Geistes und der Kunst erzählen

erzählt von
Ralf Jochen Moser

An den vierten Bildern stellt sich für einen Künstleringenieur besonders augenfällig dar, dass sie zwar in gleicher Weise aber mit leichten Variationen konstruiert wurden. Ihre Konstruktion wurde in einem künstlerischen Prozess entwickelt, in dem zwei verschiedene fotografische Verfahren aufeinander folgen, bevor der finale Zusammenbau von drei Bildern zu einem vierten Bild erfolgt. Jeder der einzelnen Schritte leistet seinen eigenen Beitrag zum Werk des Künstlers.

Die Bilder wurden von Oestergaard beim Spazierengehen am Rhein mit seiner Sofortbildkamera von Polaroid aufgenommen. Die Sofortbilder sind fotografische Unikate, Sammelstücke und innig geliebte Erinnerungsstücke, die er auf Spaziergängen am Rhein entdeckt und aufgenommen hat. Die Kamera – selbst ein kostbares Sammelstück – verstärkt Oestergaards Leidenschaft für die Sofortbildfotografie und die Sammelstücke, die sie hervorbringt.

Zuhause hat sich beim Betrachten der gesammelten Sofortbilder das künstlerische Ritual herausgebildet, drei Erinnerungsstücke in einem Gedankenexperiment zu einem vierten Bild zusammenzusetzen. Während des künstlerischen Rituals erneuern die Bilder seine Erinnerungen an seine Entdeckungen am Rhein und aus den aufgenommenen Erinnerungen entstehen in Oestergaards Vorstellung eine erste Skizze der vierten Bilder sowie eine Idee für eine Geschichte; eine Geschichte, die ihm der Rhein aus den aufgenommenen Erinnerungsstücken heraus erzählt.

Ein weiterer fotografischer Prozess bereitet die ausgewählten Bilder auf das Zusammenfügen am Computer vor und erlaubt Oestergaard seine Sofortbilder eingehender zu untersuchen. Nach dem hochauflösenden Scannen werden sie ein zweites Mal entwickelt: die Farbigkeit wird aneinander angeglichen, Mängel des Filmmaterials werden untersucht und – entsprechend der Einschätzung der Untersuchung – abgeschwächt, verstärkt oder sogar hervorgehoben. Dabei werden Informationen, Erinnerungen und Dinge herausgearbeitet, die auf den Unikaten mit den Augen allein nicht sichtbar waren. Insbesondere die Vergrößerung der Bilder macht Unsichtbares sichtbar. Der zweite fotografische Prozess vollendet als künstlerische Einflussnahme die automatische Entwicklung der Sofortbilder, löst die Bilder fotografisch von den Unikaten und bereitet sie auf ihr neues Leben in den vierten Bildern vor.

Das Zusammenfügen der drei Bilder zu einem vierten offenbart die Variantenkonstruktion, in die sich die zugehörigen Geschichten einbetten lassen. Schon beim Ineinanderschieben der drei Bilder ergibt sich eine visuelle Spannung, die das vierte Bild mit narrativer Energie auflädt. Sie verändert kontinuierlich wie die drei Bilder als viertes gesehen werden und auf diese Weise auch den Fluss der Geschichte selbst. Wie weit die Bilder miteinander verschmelzen, bestimmt Zeit und Raum in der Geschichte: klar definierte Linien zeigen sich am Anfang der Erzählung, verschmelzende Linien führen die Handlung weiter und kaum wahrnehmbare Übergänge führen den Betrachter möglicherweise zu einem dramatischen Höhepunkt.

Der erzählerische Kontext des vierten Bildes wird durch die Konstruktion getragen, hält die drei Bilder zusammen und lässt den Betrachter in den Fluss der Erzählung eintauchen. Die drei Bilder wiederum halten durch ihren Informationsaustausch an den Rändern die Geschichte in Fluss und verwandeln sie in etwas Lebendiges, indem sie ihre eigene Sichtweise von Bild zu Bild in alle Richtungen weitertragen. Es ist die Konstruktion aus drei ineinandergeschobenen Bildern – einem Triptychon im Ergebnis nicht unähnlich, die den vierten Bildern ein neues Leben schenkt.

Innerhalb eines vierten Bildes ergeben sich verschiedene Übergänge und Eigenschaften, die Konflikte bei der Auslegung der Geschichten hervorrufen können. Solche Konflikte lassen sich beispielsweise im vierten Bild ‹ Traum des Anglers › auf einer Metaebene auflösen. Wenn das warme Gefühl, das durch das Gelb der Sonne im Bild ausgelöst wird, durch die warnende Funktion der Farbkombination Schwarz-Gelb in eine Vorahnung von Gefahr kippt, dann kann aus dem Traum des Anglers leicht ein Alptraum werden. Der Traum des Anglers, wie ein Fisch an seiner eigenen Angel zu hängen, kippt zum Alptraum beim Waterboarding an der Angel zu ersticken. Das ist der Stoff, aus dem sich neue Erzählungen und neue Sichtweisen auf den Metaebenen des Lebens, des Lernens, des Geistes und der Kunst ergeben.

Die immanenten Konflikte und die kommunikativen Übergänge zwischen den drei Bildern ermöglichen der Betrachterin und dem Betrachter, an verschiedenen Stellen in den Fluss der Erzählung einzusteigen und dabei ihrer und seiner eigenen Fantasie freien Lauf zu lassen. Wie alle guten Erzählerinnen verändern die vierten Bilder ihre Erzählweise von Mal zu Mal und laden die Zuhörer kontinuierlich dazu ein, sie zu einer eigenen Geschichte zu formen. Wer sich auf Jessen Oestergaards Arbeit „Was mir der Rhein erzählt“ einlässt, wird möglicherweise sogar in einen meditativen Flow aus tausendundeiner Geschichte gezogen. Deswegen kann es schwerfallen, sich vom Erzählen auf den Metaebenen und dem Zuhören auf den Ebenen darunter zu lösen, weil wir auf diese Weise Gefallen daran finden, uns mit uns selbst zu beschäftigen.

Die meditative Stimmung der vierten Bilder lehnt sich mit ihren Metastufen des Lebens und des Lernens an die meditativen Stimmungen des Morgenlandes an, die auch ohne christlichen Gott Sinn ergeben. Die Ähnlichkeit der vierten Bilder mit abendländischen Triptychen verstärken zwar unterbewusst den christlichen Kontext – zumindest bei jenen wenigen, die sich heute der Funktion von Triptychen noch bewusst sind – aber der meditative Flow löst die andächtige Stimmung aus dem abendländischen, christlichen Kontext und transformiert sie in die meditativen Stimmungen des Morgenlandes.

Oestergaards künstlerische Arbeitsweise enthält Parallelen zum Vorgehen, das in der japanischen Dichtkunst Tradition hat. Haiku und Senryū bezeichnen japanische Gedichtformen, die zwar formal identisch sind, da ihre Kennzeichen jeweils Kürze, Konkretheit, Gegenwärtigkeit und Offenheit sind, aber ein Senryū wendet sich mehr dem Persönlichen und dem Emotionalen zu. Die dargestellten Dinge in einem Senryū sind Repräsentanten erlebter Momente und der damit verbundenen Gefühle. Die Natur wird zum Spiegel der Seele. Objekte werden stellvertretend und symbolhaft benutzt. So verhält es sich auch bei Oestergaards Sammel- und Erinnerungsstücken. Und die Parallelen gehen weiter. Ein Senryū besteht – wie ein Haiku – meistens aus drei Wortgruppen, so wie ein viertes Bild aus drei Bildern besteht. Senryū drücken Gefühle durch Bilder aus, die sie mit Worten ausdrücken (?) und aus Erinnerungen und Erfahrungen gesammelt haben. Oestergaard sammelt die Bilder und untermalt sie mit einer Geschichte.

Haikus haben sich im Laufe ihrer Geschichte mit dem Zen-Buddhismus und der meditativen Versenkung verbunden, um die es im Zen geht. In gleicher Weise können sich die vierten Bilder mit der meditativen Stimmung des Zens verbinden, allerdings ohne das Ich aufzugeben oder aufzulösen. Das erkennende Ich begrenzt lediglich den Glauben des unterbewussten Ichs durch das Wissen (des erkennenden Ichs)(?) über die vielschichtige Realität, die es umgibt, in einem Metalog. In einer solchen meditativen Stimmung kann die Konstruktion der vierten Bilder Brücken schlagen: von den analogen zu den digitalen Medien, von den Offenbarungen des Naiven und Intuitiven zur geistigen Welt der Metastufen des Lebens, des Geistes, des Lernens und der Kunst und letztendlich auch von dem, was uns bewusst ist und was wir wissen, zu unserem Unterbewusstsein und unserem Glauben. Vielleicht können die Brücken unseren Blick mit einem solchen Metalog sogar für eine neue, kreativere Welt öffnen, in der unser Glaube durch unser Wissen begrenzt wird.

Ralf Jochen Moser

Für alle vierten Bilder gilt:
Auflage: 10+3 AP
Material Fine Art Print | 21 x 60 cm oder 42 x 120 cm
Preise 2024:
21 x 60 cm 650€ plus 120€ für den Rahmen
42 x 120 cm 1300€ plus 310€ für den Rahmen
Rahmung: Halbe Classic, Alu 8, schwarz matt, entspiegeltes Museumsglas.

Winterlied

Winterlied
Kurz vor dem Baumstamm werden wir langsamer, halten uns still in der Strömung, schauen durch den Nebel hinauf zu diesem langen, dunklen Zweibeiner hinter dem Gras, der sich eine Kiste vor die Augen hält.
Es klickt und surrt dreimal durch den Nebel, eine fremde Melodie.
Dreimal steckt er etwas in sein Gefieder.

Traum des Anglers

Traum des Anglers
Der Angler hüllt sich ins warme Gelb der Dämmerung, das ihm am Himmel und im Fluss entgegenströmt – seine Traumfarbe.
Er sieht ihr hinterher, den Fluss hinunter.
Was, wenn er sich ins Wasser ließe, die Angel fest am Block verankert?
Ein paar Momente wie ein Fisch durch den Strom gleiten.
Hinaufschauen zu den Ästen am Ufer.
Und sie hinunter zum großen, zappelnden Fisch an der Angelschnur.
Was, wenn er sich langsam wieder an Land zöge?
Er wäre Fisch gewesen, könnte erzählen von der Strömung, von der Angel.

Scherbe 2: Verwandlung

Scherbe 2: Verwandlung
Im Abendlicht finde ich Scherben in der Nähe des Baumes mit den monumentalen Wurzelsträngen.
Ärger steigt hoch, ich hebe eine auf und halte sie zur Mahnung vor den dunklen Fluss.
Auf den Bildern sehe ich die Verwandlung.
Zwischen den Steinen und dem Baum ist sie zur magischen Scheibe geworden, glitzert, funkelt, erzählt.

Scherbe 1: Flasche ohne Post

Scherbe 1 : Flasche ohne Post
Keine Flaschenpost, keine Nachricht.
Oder doch?
Ich halte die grüne Scherbe vor die Flusslandschaft und versuche, übriggebliebene Zeichen zu entziffern.
Die Kiesel am Ufer beginnen zu vibrieren.

Kähne an Ketten

Kähne an Ketten
Erinnerungen an jahrzehntealte Dias führen mich ans Ufer.
Hier unten, hier lagen Kähne an Ketten.
Hier liegen noch immer Kähne an Ketten.
Ich fische Bilder aus dem Fluss.
An Ketten.

Energie 2: Unsichtbar

Energie 2: Unsichtbar
Wasser dampft aus den Türmen, sie verdauen den Fluss und schicken ihn in den Himmel, damit wir nicht frieren.
Zurück am Auto sehe ich die Leiterbahnen der Heckscheibenheizung neben dem Baum.
Für einen Moment lang kann ich die Strahlung sehen.

Energie 1: Federleicht

Energie 1: Federleicht
Das GKM und der Fluss.
Zwei große, übermächtige Bekannte, vor denen ich im weichen Kieselufer bei jedem Schritt einsinke..
Wie kann ich euch bändigen, euch freundlich stimmen.
Mit der Kamera in der einen Hand suche ich den Boden nach etwas Brauchbarem ab.

Schiff mit Aussicht

Ein Schiff mit Aussichten
Hier liegen wir, geschlagen und zurechtgesägt für unsere letzte Aufgabe.
Seht her, rufen wir, schaut ans Ufer.
Wir sind immer für euch da, auch jetzt noch.
Und plötzlich erscheint das lange weiße Schiff mit den vielen Augen.

Dunkles Wasser

Dunkles Wasser
Das dunkle Wasser ist wie Tinte, die durch mein Gedächtnis kreist und wirbelt.
Manchmal wird das Wasser schwarz vor lauter Wörtern, Buchstaben und Satzzeichen.
Bis sie in den Wellen der fließenden Grammatik langsam wieder zu ganzen Sätzen werden.
Nichts geht verloren.

Aufgeräumt

Aufgeräumt
Ich zwinge mich hinzuschauen und drücke mit der alten Spectra dreimal ab.
Alles überbelichtet.
Zuhause am Monitor ziehe ich die Gradationskurven nach unten, um wiederzuentdecken, was sich auf den Bildern versteckt hat. Messer, Gabel und Pappteller tauchen wieder auf.
Ich stelle die drei Bilder nebeneinander und bin erleichtert.

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